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Kanzler Kern bei seiner Antrittsrede im Parlament: "Was ich Ihnen versprechen kann, ist, dass wir mit jeder Faser unseres Wollens, dass wir mit unserer gesamten Leidenschaft und mit jeder Minute unseres Denkens versuchen werden, die Dinge in die richtige Richtung zu bewegen."

Foto: Reuters / Leonhard Foeger

Wien – Christian Kern ist ein Renner, nicht nur im Kreis der Genossen. Wie ihm seine Frau beim Frühstück erzählt habe, hat fast eine Million Menschen das auf Facebook gestellte Video von seinem ersten Auftritt geliked und geteilt, berichtet er – "und ich habe den Eindruck, das waren nicht nur Familienmitglieder und Freunde aus der ÖBB." Doch so viel Sympathie bringe auch eine Verpflichtung mit sich, fügt Kern an und nimmt Anleihe bei Sisyphus: "Es geht darum, einen Stein an die Spitze zu rollen."

Nachdenklich gibt sich Christian Kern, als er zu seiner ersten Rede als frisch angelobter Bundeskanzler vor die Abgeordneten im Nationalrat tritt. Er beschwört zwar den Optimismus, der die schlechte Laune, diese Wachstumsbremse schlechthin, vertreiben soll, spricht aber auch von absehbaren Fehlschlägen und Frustrationen. Ja, ein Scheitern sei möglich, sagt Kern, aber wenn, "dann werden es die richtigen_Motive sein, aus denen wir scheitern." Was er garantieren könne: "Dass wir mit jeder Faser unseres Wollens, dass wir mit unserer gesamten Leidenschaft und mit jeder Minute unseres Denkens versuchen werden, die Dinge in die richtige Richtung zu lenken."

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Doch welche Dinge will der neue Regierungschef in welche Richtung lenken? Die Antworten in Kerns weitgehend vom Blatt gelesenen, aber angesichts der handschriftlichen Notizen offenbar selbst verfassten Rede, beschränken sich auf Grundsätze. Weltoffenheit statt geistiger Verengung, Zukunftsglauben statt Hoffnungslosigkeit propagiert der designierte SPÖ-Vorsitzende, er will den Markt so weit wie möglich gewähren und den Staat so weit wie nötig intervenieren lassen. Ein Zitat, das dem einstigen Bundeskanzler Franz Vranitzky unterstellt wird ("wer Visionen hat, braucht einen Arzt"), dreht Kern um: Den Arzt brauche im Jahr 2016 derjenige, der keine Visionen habe.

Offene Diskussion statt Dogmen

Die Gesellschaft dürfe Kinder nicht zu Verlierern machen, weil sie den falschen Vornamen tragen oder von den Eltern nicht gefördert werden, sagt der Redner – ein Plädoyer für die Gesamtschule? Kern nimmt das Wort nicht in den Mund. Vom Wohlstandszuwachs im Land dürfe nicht nur eine kleine Minderheit profitieren – ein Bekenntnis zu Vermögenssteuern? Kern lässt es offen. In der EU müsse es mehr Spielraum für öffentliche Investitionen geben – ein Angriff auf die strengen Sparvorgaben? Kern konkretisiert es nicht.

Für die Unverbindlichkeit bietet die Ansprache eine Begründung. "Mein Verständnis ist es nicht, dass wir über Dogmen, Doktrinen und fertige Konzepte reden", sagt Kern den Abgeordneten, "mein Verständnis ist, dass wir eine offene Diskussion führen." Diese habe er in der jüngeren Vergangenheit vermisst: Inhalt sei durch "taktischen Opportunismus" ersetzt worden, oft gehe es nur mehr darum, "wer mit einem Siegerlächeln das Schlachtfeld verlässt".

Geistiges Vakuum

Vieles mehr hat Kern am Status Quo der Politik zu bekritteln, ausführlich breitet er das Sündenregister aus. Keine generelle Politikverdrossenheit, aber Ärger über jene "Kapselpolitik", die an den tatsächlichen Sorgen der Menschen vorbeilaufe, habe sich breitgemacht, und natürlich das Gefühl des Stillstandes. Betrachte man die Leistungen von Regierung und Parlament im Detail, dann müsse man diesem Eindruck vielfach widersprechen, räumt Kern ein, doch angesichts der "flachen pragmatischen Lösungen" seien die "Zukunftsbilder" abhanden gekommen: "Es ist nicht mehr klar, wohin wir unser Land führen wollen. In dieses geistige Vakuum kriecht umso leichter das Vorurteil und die billige Pointe."

Einen "Ruck" will Kern in Österreich auslösen, um den Populismus in die Schranken zu weisen: "Ab heute läuft der Countdown um die Menschen und Herzen in unserem Land."

Die ÖVP zeigt sich willig

Die Freiheitlichen klatschen im Gegensatz zu Grünen und Neos demonstrativ nicht, doch vom Nachbarn auf der Regierungsbank fällt die Reaktion herzerwärmend aus. "Ich will" antwortet Vizekanzler Reinhold Mitterlehner auf die Erneuerungsappelle und ergänzt mit Geste in Richtung ÖVP-Ministerriege: "Ich glaube, unsere Seite will auch." Allerdings brauche die Regierung die Selbstgeißelung nicht übertreiben, denn für das schlechte Image der Politik sei nicht sie allein verantwortlich. Mitterlehner, mit mahnendem Blick ins Plenum: "Auch die Opposition ist Teil des Bildes, dass wir abgegeben haben."

Um die Ehre der Koalition zu retten, unternimmt Mitterlehner noch einige Exkurse in die eigene Leistungsbilanz, ehe er Kern eine Weisheit mit verpackter Warnung mitgibt. "Jedem Neuen wohnt ein Zauber inne", sagt Mitterlehner, der in der öffentlich-medialen Wahrnehmung rasch vom schneidigen "Django" zum Platzhalter mit Ablaufdatum abgestiegen war: "Ich habe das selbst erlebt." (Gerald John, 19.52016)