Bei der Bundespräsidentschaftswahl am kommenden Sonntag wird zum ersten Mal seit 1945 ein Kandidat, der nicht von SPÖ oder ÖVP unterstützt wird, ins höchste Amt der Republik gewählt. Jahrzehntelang waren Bundespräsidentschaftswahlen Duelle Rot gegen Schwarz. Am Sonntag hingegen fällt die Entscheidung zwischen einem ehemaligen Bundessprecher der Grünen und einem stellvertretenden Bundesparteiobmann der FPÖ.

Anders als bei Nationalratswahlen ist es am Sonntag mit dem Mobilisieren der eigenen Anhängerschaft bei weitem nicht getan. Nicht zuletzt deswegen, weil es in der Stichwahl nur einen Sieger geben kann, während bei Nationalratswahlen der Hauptgewinn – die Regierungsbeteiligung – erst in den Koalitionsverhandlungen ermittelt wird.

In solchen Szenarien greift man in der Politikwissenschaft gerne auf das Medianwählermodell zurück. Wenn man alle Wähler nach ihrer Ideologie von links nach rechts aufstellt, dann ist die Person, die genau in der Mitte steht, der Medianwähler. Eine Hälfte der Wählerschaft steht weiter rechts, die andere Hälfte weiter links. Wenn alle Wähler für den Kandidaten stimmen, der ihnen ideologisch am nächsten steht, dann gewinnt der Kandidat, der den Medianwähler auf seine Seite ziehen kann.

Keine Mehrheit links der Mitte

Natürlich ist die Wirklichkeit viel komplexer als solche simplen Modelle. Dennoch haben sie eine gewisse Erklärungskraft. Bei Nationalratswahlen etwa stimmt der Medianwähler spätestens seit 1986 für die ÖVP (oder zumindest stellt die ÖVP den Medianabgeordneten im Nationalrat). Anders gesagt: Es gibt seit Bruno Kreisky keine parlamentarische Mehrheit für Parteien links der Mitte. Es ist daher auch kein Zufall, dass die ÖVP seit fast 30 Jahren ohne Unterbrechung in der Regierung sitzt.

Das Medianwählermodell sagt uns also, dass am Sonntag die Wählerinnen und Wähler in der Mitte die Wahl entscheiden werden. Für beide Kandidaten ist die große Herausforderung dabei, Wählerinnen und Wähler anzusprechen, die in ihrem Leben noch nie für die Grünen oder die FPÖ gestimmt haben. Welche Hürden dabei zu überwinden sind, können wir näherungsweise anhand der Autnes-Vorwahlbefragung zur Nationalratswahl 2013 bewerten. Mehr als 3.000 Personen wurden dabei gefragt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie einer bestimmten Partei ihre Stimme geben würden. Die Antwortskala reicht von 0 ("sehr unwahrscheinlich") bis 10 ("sehr wahrscheinlich").

In der ersten Grafik sehen wir, wie die Wählerinnen und Wähler von SPÖ, ÖVP, FPÖ und Grünen diese Wahlwahrscheinlichkeit im Durchschnitt einschätzen (die senkrechten Striche geben die Schwankungsbreiten um die Mittelwerte an). Logischerweise ist der Mittelwert für die laut Umfrage präferierte Partei immer sehr hoch. Interessant wird es, wenn wir die Werte für die nichtpräferierten Parteien betrachten.

SPÖ-Wähler können sich etwa mit der ÖVP und den Grünen noch eher anfreunden als mit der FPÖ. Bei ÖVP-Wählern steht Rot etwas höher im Kurs als Grün und Blau. Bei FPÖ-Wählern sind ÖVP und SPÖ etwa gleichauf, die Grünen abgeschlagen. Bei Grünen-Wählern schließlich gibt es eine klare Präferenzordnung: SPÖ vor ÖVP vor FPÖ.

Natürlich ist die Hofburgwahl keine reine Parteienwahl, aber aus diesen Zahlen können wir erahnen, welche Hindernisse die beiden Kandidaten am Sonntag auf dem Weg zu einer Mehrheit überwinden müssen. Bei Anhängern von Rot und Schwarz (von denen wohl ein guter Teil im ersten Wahlgang Irmgard Griss gewählt hat) stehen ihre beiden Parteien nicht sehr hoch im Kurs.

Noch deutlicher wird diese Tatsache in der zweiten Grafik. Hier sehen wir die Verteilung über die gesamte Antwortskala (0 bis 10) für die Wahrscheinlichkeit, die vier genannten Parteien (SPÖ, ÖVP, FPÖ und Grüne) zu wählen.

Wie man auf den ersten Blick erkennt, ist bei FPÖ und Grünen der Balken ganz links ("sehr unwahrscheinlich") mit Abstand der höchste. Nicht weniger als 42 Prozent der Befragten halten es für praktisch ausgeschlossen, dass sie jemals die FPÖ wählen würden. Bei den Grünen sind es immerhin noch 28 Prozent. Für die (ehemaligen) Großparteien liegen die Anteile bei 17 (ÖVP) und 14 (SPÖ) Prozent.

Noch deutlicher wird dies in der Autnes-Nachwahlbefragung zur Nationalratswahl 2008 (durchgeführt im Frühjahr 2009, N = 1.203). Dort wurde explizit gefragt, ob die Befragten bestimmte Parteien niemals wählen würden. Je 17 Prozent nannten SPÖ und ÖVP, immerhin 41 Prozent die Grünen und ganze 53 Prozent (!) die FPÖ.

Auch wenn diese Daten schon wieder einige Jahre alt sind und sich mit der Zeit manches ändert: Das Stimmungsbild ist besonders für die FPÖ stark polarisiert. In Umfragen ist sie seit Monaten mit Abstand die stärkste Partei mit über 30 Prozent Zustimmung. Demgegenüber steht eine relativ große Gruppe an Wahlberechtigten, für die die FPÖ unter keinen Umständen eine Option ist.

Für die Grünen ist die Stimmung etwas weniger stark polarisiert: Ihre Anhängerschaft ist zwar deutlich kleiner als jene der FPÖ, es gibt aber auch weniger Wähler, die sie per se ablehnen.

Das Ergebnis der Stichwahl am Sonntag (inklusive Wahlbeteiligung) wird uns Auskunft darüber geben, wie gut Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer mit diesen strukturellen Herausforderungen umgegangen sind. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 18.5.2016)