Back to the U.S.S.R.: Designer Gosha Rubchinskiy ist der Posterboy einer neuen Sowjet-Nostalgie. Hier eines seiner Outfits.

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Vielgestaltige russische Mode: Die beiden Buben tragen Mode von Gosha Rubchinskiy, der Rucksack, der Pulli und das Outfit in der Mitte sind von ZDDZ, links It-Girl Miroslava Duma. Das türkise Outfit ist Haute Couture von Ulyana Sergeenko.

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Ein regnerischer Nachmittag im Zentrum von Moskau, wer das nötige Kleingeld besitzt, der hat es sich bereits im hinteren Bereich des coolen Concept-Stores KM20 bequem gemacht. Hippe Jugendliche, die sich äußerlich kaum von denen in New York, London oder Paris unterscheiden, hängen an ihren Laptops und bestellen im cleanen, weiß gehaltenen vegetarischen Restaurant grüne Smoothies oder andere gesunde Leckereien. Vorne im Shop, den es bereits seit 2009 gibt, wird alles verkauft, wovon konsumorientierte Teenager in aller Welt träumen: die neuesten Sneakers von Raf Simons, die gehypten T-Shirts des französischen Labels Vetements, die Jeanskreationen des in London lebenden Designduos Marques'Almeida, die Unisex-Entwürfe des irischen Fashion-Wunderkinds J. W. Anderson.

Ein freundlicher Verkäufer namens Iwan zeigt jene russischen Streetwear-Labels, die sich im internationalen Kontext keineswegs verstecken müssen: Tigran Avetisyan, der in Sankt Petersburg geboren wurde und an der Londoner Mode-Kaderschmiede Central Saint Martins studierte. Berühmt wurde er mit seinen Oversized-Jacken und -Shirts, auf denen Texte wie "Too much pressure" oder "No Jobs" standen.

Oder ZDDZ von Dasha Selyanova, die ebenfalls gerne mit Slogans arbeitet und deren Entwürfe von Popstars wie Rihanna oder M.I.A. getragen werden: "Help Yourself" oder "Love Your Nervous System", Sprüche, die sich auf amerikanische Antidepressionskampagnen aus den 1970er-Jahren beziehen, die im russischen Gegenwartskontext, in dem psychische Krankheiten lieber totgeschwiegen werden, eine neue Schärfe bekommen. "Das ist ein junger, zurückgelehnter, zeitgemäßer Look, der für Jugendliche weltweit ansprechend ist", bestätigt die russische Modejournalistin Anastasiia Fedorova, die mittlerweile in London lebt und sich viel mit Streetculture beschäftigt.

Modestar Gosha Rubchinskiy

Der Verkäufer Iwan arbeitet seit einem Jahr im MK20, er ist 22 Jahre alt und trägt stolz ein T-Shirt des russischen Modeshooting-Stars Gosha Rubchinskiy. "Gosha ist ein lustiger Typ, der öfter bei uns vorbeischaut", sagt Iwan und ist sichtlich stolz darauf, den international gefragten Designer persönlich zu kennen, dem 2012 durch die japanische Marke Comme des Garçons, die Vertrieb und Produktion unterstützt, der Weg in den Westen geebnet wurde.

Gosha Rubchinskiy.
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Gosha ist der Posterboy einer Sowjet-Nostalgie, die perfekt zum aktuellen 90er-Jahre-Revival passt: Rubchinskiy spielt mit den Symbolen einer Zeit, die die meisten seiner jungen Käufer nur vom Hörensagen kennen. Seine Shirts und Socken tragen kyrillische Schriftzeichen, Farben und Schnitte seiner Trainingsjacken erinnern an Sportkleidung der 1980er-Jahre. Seine Mode ist besessen von zwei Themen: der Sowjetvergangenheit und der Schönheit zeitgenössischer russischer Jugend. Rubchinskiys Sommer-2014-Kollektion etwa trug den Schriftzug "Sei bereit, allzeit bereit", das Motto von Lenins Pionierorganisation, einer Art UdSSR-Version der Pfadfinder.

Iwan ist ein Jahrzehnt später groß geworden, das Leben hinter der Mauer kennt er nur aus Erzählungen, die Reinszenierung jener Ästhetik aber findet er, wie viele seiner Generation, exotisch und spannend: "Das ist unser Stil und unsere Vergangenheit. Ich mag diese Sowjet-Ästhetik."

Iwan verkörpert das neue russische Selbstbewusstsein in Sachen Mode, das vor allem Rubchinskiy zu verdanken ist. Sein Modeuniversum besteht aus mehr als bloß Kleidung, sie ist ein Gesamtkunstwerk und Lifestyle-Statement. Er fotografiert blutjunge Skater in Sankt Petersburg und Moskau, die Kamera kriecht ganz nah an seine Models heran. Wer Gosha kauft, möchte zu dieser coolen russischen Clique gehören, möchte sich ein Stück unbeschwerte Jugend kaufen. "Ich denke, Gosha ist so erfolgreich, weil er genau weiß, wovon er erzählt", sagt die Journalistin Fedorova. "Er ist in einem postsozialistischen Land umgeben von all den Symbolen eines zusammengebrochenen Systems aufgewachsen, hat den Clash von Sowjetvergangenheit und westlicher Kultur erlebt. Und er hat einen ironischen Blick auf beide Welten."

Die berühmten Gosha-T-Shirts spielen mit jenem Flaggenlogo, das Tommy Hilfiger auf seine Shirts drucken lässt. In Sowjetzeiten waren die wertvollen Hilfiger-Importe unerschwinglich, man bekam sie nur als billige Fakes. Mittlerweile dreht sich der Spieß um: Fashion-Aficionados im Westen sind scharf darauf, russische Leiberln zu kaufen, die ironisch mit westlichen Statussymbolen spielen.

Ein paar hundert Meter weiter sieht es schon wieder ganz anders aus. Im Café Vogue treffen sich neues Geld und künstliche Schönheit. Die Location wirkt wie ein typisches Wiener Kaffeehaus, nur der Protzfaktor ist größer. Die Klientel zeigt gerne, was sie sich leisten kann. Der russische Theaterregisseur Konstantin Bogomolov macht sich in seiner Produktion "Ein idealer Gatte" über diese neureiche Location lustig – die Kultinszenierung gastiert übrigens heuer bei den Wiener Festwochen. Auf der Bühne fotografieren sich die Schauspielerinnen permanent selbst und reden – in Anlehnung an Tschechows "Drei Schwestern" – darüber, wie gern sie doch arbeiten würden. Die Klischee-Russinnen, die viel zu laut gekleidet sind, im Café Vogue findet man sie noch. In bestimmten Kreisen ist Russland noch immer mehr High Heels als Sneakers.

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Ulyana Sergeenko, eine Oligarchengattin, die aufgedonnert-poppige Haute Couture entwirft, passt gut in diese Welt.


Eine neue Generation

Aber trotzdem hat sich viel verändert. Die schlimmsten Geschmacklosigkeiten sind seltener geworden. "Man muss sich ein Kind vorstellen, das lange keine Süßigkeiten bekommen hat, und plötzlich darf es alles essen, was auf dem Tisch steht", beschreibt Journalistin Evelina Khromtchenko, eine der einflussreichsten Figuren in der russischen Modeszene, die Zeit nach dem Fall der Mauer: "Um fair zu sein, das war nicht der eleganteste Moment in der Modegeschichte. Mittlerweile gibt es die erste Generation an Frauen, die sich elegant kleidet."

Ein Besuch im gegenüberliegenden Luxuskaufhaus Tsum bestätigt, wie vielfältig das Angebot geworden ist. Das Tsum muss den Vergleich mit dem Londoner Selfridges nicht scheuen, besonders die Contemporary-Abteilung im vierten Stock beeindruckt: Kein innovatives Label fehlt, von Acne Studios bis zu The Row. Ganz selbstverständlich sind die russischen Designer nicht in einer speziellen Ecke untergebracht. "Ich glaube nicht, dass es noch so etwas wie einen russischen Stil gibt", sagt Journalistin Fedorova. "Menschen aus unterschiedlichen sozialen Klassen und Altersstufen kleiden sich höchst unterschiedlich, Russland hat mittlerweile eine sehr diverse Modeszene".

Vika Gazinskaya, die 2006 ihr Label gründete und für minimalistisch-elegante Entwürfe steht, hängt direkt neben dem aus Tirol stammenden und in London ansässigen Aufsteiger Peter Pilotto. Gazinskaya gehört zur russischen Upper-Class-Fashion-Elite, wie die Journalistin und Lifestyle-Plattformbetreiberin Miroslava Duma, die von internationalen Streetstyle-Fotografen gern abgelichtet wird.

Vor dem Tsum tummeln sich Hipster-Jugendliche in weißen Stan-Smith-Turnschuhen, die Männer tragen typische Bärte. Auch diesbezüglich ist Moskau längst international genormt. Aber eines hat sich doch verändert: der begehrliche Blick des Westens auf den Osten. Gefragte Designer sind gerade auf der Suche nach einer Ästhetik, die wieder härter ist, näher dran am Leben. Die Mode braucht Frischblut, sucht Orte, die noch nicht völlig gleichgeschaltet sind.

25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer wird die Ästhetik des Kalten Kriegs wieder schick. Das beweisen nicht nur die aktuellen Kampagnen von Gucci und Givenchy, die die abgerockten Seiten von Berlin als neuen Glamour zelebrieren. "Ich mag die Idee von Sowjet-Girls in Berlin in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren", meinte J. W. Anderson nach der Präsentation seiner Herbst/Winter-2015 Show. "Poor but cool", wie der ukrainische Designer Anton Belinskiy auf seine Sweater drucken ließ.

Man hat sich ein wenig sattgesehen an der glatten Schönheit vieler Models. Vielleicht ist deshalb auch die russische Agentur Lumpen – was so viel wie Outsider bedeutet – überaus gefragt. Eckige Gesichter, kahlgeschorene Haare, abstehende Ohren: Lumpen castet Kids von der Straße, die dann auf den Catwalks bei Balenciaga oder Gucci laufen.

Eine erstarrte Modewelt sehnt sich nach der Aufbruchsstimmung der Perestroika-Zeit, als Mode Ausdruck von Individualität und Widerstand war. Ein Anachronismus, aber auch eine spannende Entwicklung, die beweist, dass Paris längst nicht mehr das Zentrum der modischen Welt ist. (Karin Cerny, RONDO, 20.5.2016)