Auch in Österreich sind 70 Prozent aller Häftlinge von psychischen Erkrankungen betroffen. Eine bessere Versorgung könnte Kriminalität verhindern.

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Wenn ein grauenhaftes Verbrechen begangen worden ist, wird schnell von "irre" gesprochen oder geschrieben. Medizinische Hilfe noch vor einer Straftat und erst recht danach kann laut aktuellen Daten aus den USA Unheil verhindern. In Österreich haben laut einer 2010 erschienenen Studie rund 70 Prozent der Untersuchungshäftlinge und Strafgefangenen eine oder mehrere psychische Erkrankungen.

"Psychische Krankheiten dekriminalisieren – Das Beispiel Miami", betitelte in der aktuellen Ausgabe des "New England Journal of Medicine" der einflussreichste Medizinjournalist der USA, John Iglehart, seinen Übersichtsartikel zum Thema Kriminalität und psychische Erkrankungen. Das Problem ist enorm. "Jedes Jahr kommen in den USA 11,4 Millionen Menschen ins Gefängnis. Im Durchschnitt befinden sich täglich 745.000 Menschen landesweit in Haft. Geschätzte 16,9 Prozent davon haben eine schwere psychische Erkrankung. Das bedeutet, dass jedes Jahr in den USA rund zwei Millionen Menschen mit solchen Krankheiten inhaftiert werden."

Im Miami-Dade County wurde das besonders greifbar. "Unter allen US-Gemeinden hat dieser Bezirk die höchste Anzahl von Einwohnern mit schweren psychischen Erkrankungen, dabei liegt Florida bundesweit an 48. Stelle der US-Bundesstaaten bei der Finanzierung wohnortnaher psychosozialer Hilfsangebote. Laut dem lokalen Richter Steven Leifman, leiden 9,1 Prozent der örtlichen Bevölkerung an einer schweren Erkrankung, das sind zwei bis drei Mal so viele wie im US-Durchschnitt. Aber nur ein Prozent bekommen Hilfe im öffentlichen Gesundheitswesen", schrieb Iglehart.

Beispiellose Ausbildung für Polizisten

Leifman lancierte im Jahr 2000 eine Initiative, um die Zahl der inhaftierten psychisch Kranken zu reduzieren. "Als ich Richter wurde, hatte ich keine Ahnung davon, dass ich damit der 'Pförtner' für die größte psychiatrische Anstalt Floridas wurde. Von den Hunderttausend Haftantritten jährlich betrafen fast 20.000 Menschen mit schweren psychiatrischen Diagnosen, die auch intensive Therapie in Haft benötigten." Was folgte, war ein bis dahin beispielloses Ausbildungsprogramm für die Polizei im Umgang mit Menschen mit psychischen Problemen, in Strategien zur Deeskalation bei Krisensituationen. Weiters gab es vermehrt Anstrengungen, psychisch kranken Delinquenten nachhaltig medizinisch zu helfen.

Das Ergebnis, so Iglehart: "Binnen fünf Jahren hatten die Polizisten der beiden größten Rayons Einsätze bei 50.000 Fällen von Krisen mit psychiatrischem Hintergrund. In 9.000 Fällen konnte eine Diversion, also eine Beilegung ohne Strafe erfolgen. Es gab nur 109 Inhaftierungen." Die Zahl der Häftlinge in den lokalen Gefängnissen sank von täglich durchschnittlich 7.200 auf 4.000 (...). Eine Haftanstalt konnte geschlossen werden. Dramatisch reduzierte sich auch die Zahl der Fälle, in denen Beamte der Exekutive psychisch Kranke gar erschossen oder ihnen in Ausübung der Amtsgewalt schwere Verletzungen zufügten.

70 Prozent der Häftlinge in Österreich betroffen

Wie häufig psychisch Kranke in Haft kommen, hat auch eine Untersuchung des Wiener Psychiaters Thomas Stompe von der Med-Uni Wien bei hundert Untersuchungshäftlingen und hundert Strafgefangenen in der Justizanstalt Josefstadt gezeigt, die 2010 im "Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie" erschienen ist. "69 Prozent der Untersuchungshäftlinge und 72 Prozent der Strafgefangenen zeigten eine oder mehrere psychische Erkrankungen. Vor allem Substanzmissbrauch und -abhängigkeit sind in Gefängnispopulationen weit verbreitet. 54 Prozent der Untersuchungshäftlinge und 57 Prozent der Strafgefangenen hatten vor der Festnahme regelmäßig eine oder mehrere Substanzen konsumiert", schrieben die Autoren.

Drei Prozent beider Häftlingsgruppen litten an schizophrenen Störungen. "Die Belastung der österreichischen Gefängnisinsassen mit Schizophrenie beträgt also etwa das Zehnfache der Gesamtbevölkerung", stellten Stompe und seine Co-Autoren fest. Nicht zuletzt daraus ergibt sich die Frage, ob eine adäquate Versorgung Betroffener vor Straffälligkeit nicht mehr an Kriminalität verhindern könnte. (APA/Wolfgang Wagner, 11.5.2016)