"Gut, dass das Kölner Landgericht den Verbots-Wahn von Erdogan in die Schranken gewiesen hat. Das zeigt, dass man in Deutschland auf den Rechtsstaat vertrauen kann, der Presse- und Meinungsfreiheit effektiv durchsetzt": Frank Überall, Vorsitzender des Deutschen Journalistenverbands.

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Deutschland ist im Pressefreiheitsranking zurückgefallen, auch wegen Angriffen auf Journalisten durch Pegida-Anhänger.

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STANDARD: Sie werfen Frauke Petry von der AfD ein gestörtes Demokratieverständnis vor?

Überall: Ja, jeder kann natürlich die Medien kritisieren, aber bei ihr ist das Konzept. Sie vermeidet zwar den Begriff der Lügenpresse. Dieser Begriff setzt ja voraus, dass man die Wahrheit kennt und ganz bewusst das Gegenteil berichtet. Trotzdem wird Journalisten genau das implizit unterstellt. Die AfD und Frau Petry wollen keine freie Presse. Petry hätte am liebsten Medien, die genau das berichten, was sie will. Da wehren wir uns natürlich. Journalisten machen ihren Job nach bestem Wissen und Gewissen, wollen nicht belehren oder erziehen. Wir möchten aufklären, einordnen und kommentieren. Auch Journalisten müssen Kritik aushalten, aber eine pauschale Verunglimpfung, wie es die AfD und Frau Petry machen, ist nicht erträglich.

STANDARD: Ändert der Lügenpresse-Vorwurf die Art der Berichterstattung?

Überall: Natürlich sollen Journalisten auch dahin gehen, wo es dreckig ist, und nicht abgehoben berichten. Wir haben es derzeit mit einer multipolaren Krise im Journalismus zu tun. Zum einen die Frage, wer für Journalismus noch zahlt. Gleichzeitig müssen wir uns wegen der aktuellen Glaubwürdigkeits- und Vertrauenskrise in Teilen der Bevölkerung immer mehr rechtfertigen. Früher haben wir wie Propheten vom Berg hinuntergesendet. Das funktioniert nicht mehr. Wir sind längst vom Berg abgestiegen, bewegen uns aber in der Ebene noch unsicher. Ich sehe das aber als Chance. Es sind ja auch schon Formate entstanden, die das aufgreifen. Eine Fehlerkultur zum Beispiel. Auch wir Journalisten sind nur Menschen und machen Fehler. Es gehört auch die Größe dazu, diese Fehler zuzugeben und zu korrigieren.

STANDARD: Die Lügenpresse-Vorwürfe kommen nicht nur aus dem rechten Lager.

Überall: Man muss hier unterscheiden: Es gibt diejenigen aus der rechten Ecke, die den Begriff als Kampfbegriff gebrauchen und das demokratische System schwächen wollen. Und es gibt Menschen mit einem diffusen Gefühl der Unsicherheit, und die müssen wir als Medien auch wieder erreichen. Wir müssen uns derzeit immer wieder die Frage stellen, ob wir mit bestimmten Verhaltensweisen auf den Vorwurf der Lügenpresse einzahlen. Ich halte es da zum Beispiel als für nicht besonders hilfreich, wenn "Bild"-Chef Kai Diekmann ein erfundenes Interview mit Jan Böhmermann in sozialen Netzwerken veröffentlicht. Für viele Menschen wird es immer schwieriger zu unterscheiden, was ein Medium ist und was nicht. Ich weigere mich, die sozialen Netzwerke als soziale Medien zu bezeichnen. Ich halte das für problematisch.

STANDARD: Aber immer mehr Menschen holen sich ihre Infos von dort.

Überall: Ja, und deswegen müssen wir mehr aufklären und Medienkompetenz schulen. Und darum kämpfen, dass die Glaubwürdigkeit uns als professionelle Journalisten weiter zugeschrieben wird und sich Menschen bei uns und nicht bei irgendwelchen Verschwörungstheoretikern informieren. Medienmarken müssen mit einer Glaubwürdigkeit verbunden bleiben.

STANDARD: Glaubwürdig zu bleiben, zu recherchieren, in die Tiefe zu gehen, kostet Geld, weil es dazu Ressourcen braucht. Gleichzeitig haben Medien mit Umsatzeinbrüchen zu kämpfen. Was tun?

Überall: Wir werden dorthin kommen müssen, dass wir im Netz nicht alles umsonst anbieten können. Das wird auf Dauer nicht funktionieren. Nach Premium Content gibt es eine Nachfrage. Es gibt die Sehnsucht nach Einordnung. Gerade in politisch unruhigen Zeiten braucht es Orientierung. Und wer sonst als die Medien soll die geben? Es braucht eine Hintergrundberichterstattung. Das Abdrucken von Agenturmeldungen mag in der Vergangenheit funktioniert haben, aber das ist kein Geschäftsmodell mehr. Hier müssen sich die Medienhäuser bewegen. Wenn sich die großen Tanker hier nicht bewegen, dann werden sich die Journalisten nach schnelleren Beibooten umsehen.

Ob die großen Medienmarken in zehn Jahren noch bestehen, liegt letztlich daran, ob sie in ihr Produkt, sprich in den Journalismus, investieren. Natürlich bekomme ich Gratiscontent im Internet, aber wenn ich wirklich etwas Hochwertiges haben möchte, dann werde ich dafür bezahlen müssen. Wir als Journalisten sind derzeit in einer Situation, die für uns unbequem und auch noch unbekannt ist. Wir müssen unseren Job und den gesellschaftlichen Wert erklären. Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen.

STANDARD: Deutschland ist im Pressefreiheitsranking zurückgefallen. Als Grund werden auch Angriffe auf Journalisten durch Pegida-Anhänger genannt. Machen Sie sich Sorgen?

Überall: Ja, deshalb haben wir das Blogprojekt augenzeugen.info gestartet. Dort werden solche Vorfälle dokumentiert. Wir versuchen auch, mit Experten, Polizei, den Innenministerien ins Gespräch zu kommen. Ich berichte seit gut 20 Jahren von rechtsextremen Aufmärschen, verbale Ausfälle gab es immer. Das ist zwar nervig, tut aber nicht wirklich weh. Das hat sich in den vergangenen ein, zwei Jahren verändert. Jetzt fliegen Flaschen, es fliegen Steine, es fliegen Feuerwerkskörper. Ganz gezielt auf Journalisten. Und die Polizei ist extrem zurückhaltend. Die Polizei muss natürlich das Demonstrationsrecht durchsetzen, aber auch das Recht auf Pressefreiheit.

STANDARD: Das heißt, Sie sehen hier wenig Bewusstsein bei der Polizei?

Überall: Ja, aus diesem Grund bin ich auch mit der Polizeigewerkschaft im Gespräch. Durch unser Blogprojekt sind Polizei und Politik aufmerksamer geworden für die Nöte, unter denen Journalisten arbeiten müssen. Es gibt eine vielfältige Bedrohungslage. Journalisten wird auf dem Heimweg von Demonstrationen aufgelauert, sie werden umringt und eingeschüchtert. Es gibt fingierte Todesanzeigen über Journalisten. Diese Einschüchterungsversuche haben massiv zugenommen.

STANDARD: Die Pressefreiheit in der Türkei wird eingeschränkt, es kursieren schwarze Listen mit Journalistennamen.

Überall: Wenn Journalisten am Flughafen in Istanbul festgesetzt werden und an der Einreise gehindert werden mit der Begründung, sie stünden auf einer Liste, dann frage ich mich natürlich: Was sind das für Listen? Ich will von Außenminister Frank-Walter Steinmeier wissen: Wer steht da drauf? Und kann Steinmeier garantieren, ob wir unseren Job in der Türkei frei ausüben können oder nicht? Bisher habe ich darauf noch keine Antwort bekommen. Was Erdoğan derzeit macht, bereitet mir große Sorgen. Es wirft alles um, was es an positiven Bestrebungen in der Türkei in Bezug auf Pressefreiheit gibt. Es werden willkürliche Prozesse geführt, Redaktionen werden geschlossen. Kolleginnen und Kollegen stehen auf der Straße. Weil sie ihre Arbeit gemacht haben. Erdoğan versucht massiv, auch international auf Berichterstattung Einfluss zu nehmen.

STANDARD: Was erwarten Sie sich von deutschen Politikern in Bezug auf Erdoğan?

Überall: Ein Beispiel: Wenn auf der einen Seite der deutsche Botschafter wegen einer lächerlichen Extra-3-Satire einbestellt wird, dann wäre es – wenn man den validen Verdacht einer schwarzen Liste von Journalisten hat – angemessen, in Berlin auch den türkischen Botschafter einzubestellen. Also ganz klar: Ich erwarte von den deutschen Politikern eine härtere Gangart gegenüber dem Autokraten in Ankara.

STANDARD: Causa Merkel/Böhmermann: Wie sehen Sie hier die Rolle von Kanzlerin Merkel?

Überall: Sie hat ja mittlerweile Fehler eingeräumt. Der Paragraf 103 – Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhaupts – stammt aus der Mottenkiste der Geschichte. Ich halte die Abschaffung dieses Paragrafen für richtig. Jeder kann ja auch persönlich Strafantrag stellen, wie Erdoğan das auch gemacht hat. Insofern hätte es keine Zustimmung für die Strafverfolgung seitens der Kanzlerin gebraucht. Ich halte das für ein negatives Zeichen in Bezug auf Presse- und Satirefreiheit. Und es war ganz klar eine politische Entscheidung.

STANDARD: Springer-Chef Döpfner hat das Böhmermann-Schmähgedicht verteidigt, jetzt geht Erdoğan auch gegen ihn rechtlich vor und hat eine einstweilige Verfügung beantragt, die am Dienstag vom andesgericht in Köln abgelehnt wurde.

Überall: Warum wählt Erdoğan nicht das Mittel der diplomatischen Konsultation nach den Paragraphen 103 und 104 gegen Springer-Chef Mathias Döpfner? Dann könnte die Bundesregierung erneut wegen Majestätsbeleidigung ermitteln lassen, obwohl sie erklärtermaßen ja diese Vorschriften abschaffen will. Nein, man kann diesen Unsinn wirklich nicht mehr ernst nehmen. Erdoğan hat jegliche Bodenhaftung verloren.

Gut, dass das Kölner Landgericht den Verbots-Wahn von Erdogan in die Schranken gewiesen hat. Das zeigt, dass man in Deutschland auf den Rechtsstaat vertrauen kann, der Presse- und Meinungsfreiheit effektiv durchsetzt. Es wäre jetzt sinnvoll, wenn der türkische Präsident seine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die deutsche Justiz beenden und nicht immer wieder neue Verfahren anstrengen würde. Auch zugespitzte Kritik muss Herr Erdoğan aushalten. (Astrid Ebenführer, 11.5.2016)