Auch wenn es in einem Laufblog eigentlich müßig ist, einen Event wie den Wings for Life World Run zu erklären: Ganz auf die Basisinformationen zu verzichten gehört sich nicht. Schließlich gibt es Menschen, die mehr oder weniger zufällig in oder über diesen Event stolpern und dann mit großen Augen da sitzen und "Voll cool, und diesen Lauf gibt es wirklich schon seit drei Jahren?" sagen. Obwohl sie auf demselben Planeten leben wie ich.

Foto: Thomas Rottenberg

Deshalb widme ich diese Geschichte jener Skateboarderin, die ich am Sonntag auf der Donauinsel bei Kilometer 27 – nördlich der letzten U-Bahn-Station – traf. Ich wartete hier auf das World Run Catcher Car, sie chillte in der Sonne. Und fragte mich irgendwann, "was da eigentlich abgeht". Und staunte, weil ich staunte, dass sie staunte.

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Weil aber zwischen dem Vorbeilaufen von Lemawork Ketema und Jewgeni Glywa und der rollenden Zielline sehr, sehr, sehr viel Zeit lag, konnte ich ihr die Geschichte vom großen Charitylauf erzählen: von den über 100.000 Menschen, die am Sonntag bei 34 Läufen auf der ganzen Welt gleichzeitig losgerannt waren, um möglichst lang und möglichst weit unterwegs gewesen zu sein, wenn sie von den – ebenfalls weltweit und zeitgleich – eine halbe Stunde später startenden Catcher Cars eingeholt und aus dem Rennen genommen worden sein würden.

Vom Startgeld, das da in voller Höhe in die Rückenmarkforschung fließt, um einen Traum wahr zu machen: Querschnittlähmung heilbar zu machen. Vielleicht. Irgendwann. Laufen für die, die es nicht können. Und Laufen für die Hoffnung.

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Die Skateboarderin nickte. Ja, das mit dem Mut dazu machen, an Träume zu glauben, sagte sie, sei wichtig. Weil Hoffnung … dann lachte sie. "Im Grunde", sagte sie, "ist das, was ihr da tut, hoffnungslos romantisch. Hoffnungslos im positiven, großartigen Sinn: Die Idee ist super. Nächstes Jahr bin ich dabei. Darf man da auch mit dem Skate- oder dem Longboard mitfahren?" Obwohl wir uns einander nicht einmal vorgestellt hatten, weiß ich, dass sie das ernst meinte. Und dass nächstes Jahr vielleicht ein paar Hippies auf Skateboards mit dabei sein werden.

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Aber bleiben wir in der Gegenwart. Die jetzt ja schon Vergangenheit ist: Heuer fand der Österreich-Ableger des größten Charitylaufs der Welt in Wien statt. Knapp 15.000 Läuferinnen und Läufer, Geherinnen und Geher, Männer, Frauen und Kinder in Rollstühlen oder mit Kinderwägen waren am Karlsplatz am Start – und schufen ein Dilemma: Natürlich geht es hier nicht wirklich um etwas. Aber trotzdem will jeder und jede so weit wie möglich kommen.

Nur: 15.000 Menschen können unmöglich gleichzeitig über eine Startlinie rennen. Und wenn exakt 30 Minuten nach den ersten Läufern die Aufholjagd der Ziellinie beginnt, gibt es immer etliche Leute, die weit weniger Zeit zum Laufen haben als die anderen.

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Der Elite war das egal. Bei der Pilgramgasse flog die Führungsgruppe an mir vorbei. Mit einer Pace, die ich nicht einmal eine Minute durchhalten würde. Aber hier und heute galt es 79,9 Kilometer zu schlagen. Diese Distanz hatte Lemawork Ketema im Vorjahr in St. Pölten vorgelegt – und damit das zweite Mal in Folge den World Run gewonnen.

Nicht nur das österreichische Rennen, sondern die Gesamtwertung. Heuer, hatte er mir erzählt und hatte sein Trainer Harald Fritz dann genauer ausgeführt, würde Ketema in die Entscheidung nicht eingreifen. Sondern mit einer "gemütlichen" Gruppe einen schönen, lockeren "Site Run" durch Wien hinlegen: vom Karlsplatz zum Riesenrad. Nicht weiter. Mit einer Pace von etwa 5' 30".

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Nur: Wer war dann dieser Mann, der keine Minute nach den Führenden an mir vorbei schoss? Ich bin ja nicht besonders gut im Schätzen von Geschwindigkeiten – aber dass das nie und nimmer eine 5-Minuten-30-Kilometer-Geschwindigkeit war, war sogar für mich leicht zu erkennen.

Außerdem: Wo war die Gruppe, mit der Lemawork zu rennen angekündigt hatte? Auch wenn meine Bekannten, die beschlossen hatten, bei "Lemawork Riesenrad" mitzulaufen, es nicht geschafft haben sollten, den Läufer im Trubel des Starts zu finden, stimmte da etwas nicht: Lema lief solo.

Foto: Thomas Rottenberg

Hinter ihm wurde es dann sehr rasch sehr voll und sehr knallgelb: Von den 15.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern hatte sicher mehr als die Hälfte das "offizielle" Shirt angezogen.

Man muss kein Prophet sein, um vorhersagen zu können, dass es heuer auf der Hauptallee und an den übrigen Lauf-Hotspots Wiens gelb zugehen wird: Im Shirt-Match zwischen Frauenlauf- und Night-Run-Leiberlträgerinnen und -trägern gibt es also einen neuen Mitspieler: den World Run.

Mir persönlich ein bisserl zu signalfarben – aber spätestens im Herbst wird Sicherheit durch Sichtbarkeit wieder ein Thema sein.

Foto: Thomas Rottenberg

Die Wings-for-Life-Stiftung hat die Rückenmarksforschung als Thema. Aber beim Lauf selbst ist Inklusion ein zentraler Anspruch: Dass das Schlagwort "Behindert ist nur, wer behindert wird" mehr als eine Floskel ist, wird hier nicht nur von Rollstuhlfahrern gelebt.

Von Patrick Bitzinger etwa, dem jungen Mann im weißen Shirt, könnten sich viele Sportlerinnen und Sportler einiges abschauen: Bitzinger ist blind und Radfahrer. Auf dem Tandem. Eine der ganz großen Hoffnungen Österreichs. Ich durfte einmal – beim Night Run – sein Begleitläufer sein. Der Mann, lernte ich da, kann nicht nur Rad fahren, sondern auch laufen. Und zwar schnell.

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Bis ich es von der Pilgramgasse zur Mariahilfer Straße geschafft hatte, war die Spitze hier längst vorbei. Aber ich erwischte noch einen anderen meiner "Vorbildläufer": Hans-Ewald Grill. Ebenfalls blind. X-facher Teilnehmer an den Paralympics. Beim Marathon immer noch schneller, als ich je sein werde. Und in etlichen anderen Disziplinen auch Medaillengewinner und Staatsmeister. Von ihm habe ich gelernt, dass es keine Hexerei ist, als Begleitläufer mit Blinden zu laufen. Und jedes Mal, wenn ich ihn sehe, bekomme ich ein schlechtes Gewissen, nicht mehr regelmäßig das "Guide"-Shirt überzustreifen.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber hier und jetzt hatte ich etwas anderes zu tun: Ich suchte meine laufenden Freunde. Und bekannte Gesichter. Auch wenn die Spitze schon weit vorne ist, ist das Feld hier noch sehr dicht gedrängt. Hier sind die Rollstuhlfahrer im Vorteil. Mit ziemlichem Karacho fetzen sie die Straße bergab – und keinen beunruhigt es: Die Läufer sind darauf gefasst. Irgendwer ruft oder schreit halt "Achtung", alle weichen aus, alle lachen – und die Gehenden applaudieren den Rollis: Man muss nur wollen.

Foto: Thomas Rottenberg

Die nächste "Prominente": Kira Grünberg. Die Stabhochspringerin kommt langsamer als die meisten anderen Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer die Mahü runter. Bis zu ihrem Trainingsunfall im Juli 2015 war sie eine der vielversprechendsten Leichtathletinnen Österreichs. Ihre Spezialität: Stabhochsprung. Die Geschichte ihres Unfalls ist bekannt. Doch Jammern und Trübsalblasen überlässt die knapp 23-Jährige anderen. Diese Kraft hat nicht jeder.

Foto: Thomas Rottenberg

Am unteren Ende der Mahü ist der World Run gerade einmal fünf Kilometer "alt". Doch obwohl die "Catcher Cars" erst 30 Minuten nach dem Start des Rennens losgefahren und zunächst wirklich gemächlich unterwegs sind, werden auch hier schon Scharen von Läuferinnen und Läufern überholt. Doch auch wenn der Sieger weit mehr als das Zehnfache schaffen wird: Darum geht es hier nicht. Keine Sekunde lang. Jeder und jede läuft, so weit es eben geht.

So gut es geht. Und dass die Ziellinie nicht ein fix definierter Strich in der Landschaft ist, hinter dem nur noch ein paar gelangweilte Helfer warten, endlich den Zielbogen abbauen zu können, motiviert. Macht das Eingeholtwerden zur Party. Und jeden und jede zum Sieger oder zur Siegerin des eigenen Laufes.

Foto: Thomas Rottenberg

Das Hauptfeld ist noch am Ring, etwa zwischen Ringturm und Urania – und hat jetzt noch den Schlenker durch den Prater vor sich. Ich kürze ab – und erwische am Praterstern gerade noch, wie die Führungsgruppe aus der Hauptallee kommt. Startnummer 33.488, lerne ich viel später, gehört Thomas Farbmacher, einem österreichischen Trailläufer. Hinter ihm sehe ich Jewgeni Glywa. Aber wer ist das neben Farbmacher? Genau: Lemawork Ketema.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich habe weder eine Akkreditierung als Medienmensch, noch bin ich Betreuer, noch habe ich hier sonst irgendeine Funktion. Aber: Was soll's? Mehr als dass mich ein Security, eine Weiße Maus oder einer der Stewards von der Strecke stampert, kann ja nicht passieren: Vor neben und hinter den drei Führenden ist die Straße leer. Nein, nicht nur 100 oder 200 Meter. Wenn ich am Radweg fahre, muss ich zwischen Zuschauern und Radfahrern mit Kindern Slalom fahren. Ich beschließe, die Straße zu nehmen: Außer mir ist da eh keiner.

Foto: Thomas Rottenberg

Obwohl: Ganz stimmt das nicht. Plötzlich ist da noch ein Radfahrer. Mit Triple-A-Badge. Aber statt mich wegzustampern, sagt er "Hi" und lacht: Lukas Bauernberger ist einer der engsten Mitarbeiter von Michael Buchleitner. Und Buchleitner ist der sportliche Direktor des Ö-World-Run. Lukas hat ein Schild unter dem Arm. Lacht. "Eines der Begleitbikes hat das '1st Man'-Schild verloren, das müssen wir jetzt wieder montieren." Basteln auf der Reichsbrücke, das hat was.

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Die Spitzengruppe ist uns jetzt aber weit voraus: Die Begleitfahrer haben E-Bikes. Lukas und ich nicht. Um die drei Läufer wieder einzuholen, müssen wir jetzt kurz einmal richtig Rad fahren – und übersehen dabei beinahe den Grußbotschafter, der da bei Kilometer 20 steht. Aber Zurückgrüßen ging sich gerade noch aus.

Foto: Thomas Rottenberg

Die drei Läufer an der Spitze sind gut aufeinander eingespielt. Sie laufen ruhig und beständig ihr Tempo. Jewgeni Glywa zählt zu den Favoriten des Laufes. Lemawork ist Lemawork: Er hat den Lauf zwar zweimal gewonnen, sollte aber eigentlich gar nicht hier vorne sein. Dennoch sind die beiden Läufer fixe Größen. Mit dem Dritten in der Gruppe kann ich aber nichts anfangen.

Um während der Fahrt nachzusehen, wer 33.488 ist, fehlt mir mindestens eine Hand: Mit einer Spiegelreflexkamera während des Radfahrens zu spielen und dabei auch noch darauf zu achten, weder den Läufern noch dem Kameramotorrad in die Quere zu kommen, genügt mir. Also frage ich einen der Begleitbiker. "Soweit ich weiß, ist das ein schottischer Langstreckenspezialist, aber so sicher sind wir uns nicht." Zur Ehrenrettung der Begleitfahrer: Für ihren Job ist dieses Wissen vollkommen egal.

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Dass das mit dem Mitfahren in der Führungsgruppe funktionieren würde, hätte ich eigentlich nicht gedacht. Es war ja auch gar nicht geplant. Aber weil man immer das ist, was man glaubwürdig simulieren kann, hat mich auch die Polizeieskorte als "zum Rudel gehörend" akzeptiert. Fein. Soll ich mich etwa dagegen wehren, Bilder aus der ersten Reihe fußfrei machen zu können? Eben.

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Etwa auf Höhe der U6-Station an der Neuen Donau geht es auf die Donauinsel. Kilometer 24 also. Es ist heiß. Badewetter. Und dementsprechend geht es auch neben der Laufstrecke zu. Familien, Pärchen, Sonnenanbeter.

Picknickgruppen. Das Publikum applaudiert, feuert an und fotografiert – lädt aber auch immer wieder ein: "Wollt ihr nicht einfach mit uns was trinken?"

Foto: Thomas Rottenberg

Bei Kilometer 25 waren es dann plötzlich nur noch zwei: Thomas Farbmacher, der angebliche "Schotte", der in Wirklichkeit ein Trailläufer im Salomon-Team ist, beendet exakt bei der Kilometertafel mit der 25 seinen Lauf.

Mehr dürfte er nicht geplant gehabt haben. "Congrats", rufen wir ihm zu, "nice job". Farbmacher ist höflich – und bedankt sich auf Englisch. Die Begleitradler sind trotzdem nicht happy: Sollten Glywa und Ketema tatsächlich in Richtung 80-Kilometer-Marke laufen wollen, wäre ein dritter Mann, der zumindest bis zum 60er mithält, schon fein.

Foto: Thomas Rottenberg

Vor allem, weil keiner weiß, was Lemawork Ketema plant: Die Ansage, nur 18 Kilometer und die in einer gemütlichen Pace laufen zu wollen, hat er ja nicht nur mir gegenüber gemacht. Will er vielleicht doch auch den dritten Lauf gewinnen? Aber falls ja: War die "Lemawork Riesenrad"-Nummer ein Bluff – oder ist mit dem Läufer einfach der Ehrgeiz durchgegangen und er überlegt schon während des Laufes, wie er das seinem Trainer und Mentor Harald Fritz danach erklären wird?

Foto: Thomas Rottenberg

"Only 35" ruft Lemawork mir zu, als ich ein letztes Mal nach vorne wegfahre, um ein kurzes "Abschiedsvideo" zu machen. Dass es auch dabei nicht bleiben wird, sehe ich später in den Ergebnissen: 41 Kilometer steht da. Am Abend rufe ich Harald Fritz an. Der seufzt – und lacht: "Lemawork hat die Gruppe tatsächlich gesucht. Dafür gibt es Zeugen. Er hat uns beim Start aber nicht gefunden. Also hat er beschlossen, einen ganz normalen Sonntags-Trainingslauf draus zu machen." Pause.


Ich höre, wie Fritz schmunzelt. "Du weißt ja: Sonntage sind die Tage mit den längeren, aber nicht voll gelaufenen Einheiten. Also ist er zweieinhalb Stunden gerannt. Und zweieinhalb Stunden ohne Druck sind bei Lema dann halt 41 Kilometer ..."

derStandard.at

Mein Plan hatte anders gelautet: Ich wollte meine Freunde und Bekannten, die es bis nach der letzten U-Bahn-Einsteigstelle schaffen würden, ein letztes Mal anfeuern.

Denn ab Kilometer 27 würde das Rennen für sie recht einsam werden: Von hier würde es weiter die Insel hinauf gehen und dann das Donauufer entlang: Korneuburg, Greifenstein, Tulln ... Das ist schon am Rad oft eine Übung in meditativer Einsamkeit. Und beim Laufen erst ...

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27 schien mir da ein guter "Abschiedspunkt". Auch, weil ich nicht ewig warten wollte: Den Lauf wollte ich drei Stunden begleiten – und dann noch ein bisserl Sonntag haben. Mit Freunden. Ich kenne ja doch ein paar Menschen, die auch andere Freizeitvergnügen haben, als bei hochsommerlichen Temperaturen ausgerechnet zu Mittag einem Auto davonzulaufen.

Foto: Thomas Rottenberg

Wobei: Auch diese Leute wollten dann wissen, wie das Rennen ausgegangen ist. Lemawork Ketema, das hatten wir schon, stieg bei k41 aus. 62 Läufer kamen in Wien weiter als er. Jewgeni Glywa lief nach Ketemas Ausstieg noch 27 Kilometer weiter. Er gewann in Österreich und wurde in der globalen Wertung 13.

Moser ist damit weltweit viertbeste Frau. Die beste Österreicherin lief übrigens in München: Karin Freitag, 59,08 Kilometer. Globale World-Run-Siegerin wurde Kaori Yoshida. Sie lief daheim, in Japan, 65,71 Kilometer.

Die Männer-Gesamtwertung gewann Giorgio Calcaterra. Der dreifache Ultra-Marathon-Weltmeister über 100 Kilometer kam am Sonntag in Mailand 88,44 Kilometer weit.

Der vierte Wings for Life World Run findet am 7. Mai 2017 statt. (Thomas Rottenberg, 10.5.2016)

Wings for Life World Run

Foto: Thomas Rottenberg