Hellmut Butterweck, "Nationalsozialisten vor dem Volksgericht Wien". € 49,-/ 800 Seiten. Studien- Verlag, Innsbruck 2016

Cover: Studien- Verlag

Hellmut Butterweck: 23.477 Verfahren.

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Ein Fall nach dem anderen ist hier verbucht. Hellmut Butterweck gelingt es, in seinem wissenschaftlichen Mammutwerk, nicht nur von den nationalsozialistischen Verbrechen in Österreich zu erzählen, sondern vielmehr legt er in seiner Studie dar, wie die junge Zweite Republik mit jenen Untaten juristisch verfuhr, indem er die damaligen Gerichtssaalreporter zu Wort kommen lässt. So erlaubt er uns zugleich einen kritischen Blick auf die öffentliche Debatte in jener Zeit.

Zwischen August 1945 und Ende 1955 wurden in eigens eingerichteten Sondergerichten, an den sogenannten Volksgerichten in Wien, Graz, Linz und Innsbruck, 23.477 Verfahren auf Grundlage des Verbotsgesetzes und des Kriegsverbrechergesetzes durchgeführt. In Österreich wurden von den 134.567 nazistischen Verdächtigen 13.852 und somit 10,3 Prozent verurteilt, wobei häufig bloß die "Illegalität", also die politische Betätigung für die österreichische NSDAP vor der nationalsozialistischen Machtübernahme 1938, geahndet wurde, während die eigentlichen Untaten des Regimes viel seltener verfolgt wurden. Zudem kann eine erste strenge Phase unmittelbar nach 1945 von einer späteren unterschieden werden, in der sich der Wunsch durchsetzte, einen Schlussstrich zu ziehen und Amnestie auch für schwerwiegende Verbrechen zu gewähren. Die Parteien buhlten um die Stimmen der sogenannten Ehemaligen.

Die juristische Auseinandersetzung der Zweiten Republik mit den nationalsozialistischen Tätern war bisher durch einige ausgezeichnete Monografien wie etwa jener von Claudia Kuretsidis-Haider zu dem Massaker in Engerau beleuchtet worden. Auch kann auf die Übersichtsstudie von Generalstaatsanwalt Karl Marschall von 1977 verwiesen werden, in der vor allem statistisches Material präsentiert wurde. Nicht zu vergessen sei die 2006 veröffentlichte Untersuchung von Thomas Albrich, Winfried R. Garscha und Martin F. Polaschek: Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht. Der Fall Österreich.

Was bisher fehlte, war eine Darstellung möglichst vieler Prozesse an einem der vier österreichischen Volksgerichte. Hellmut Butterweck schließt mit seinem Buch diese Lücke. Er widmet sich dem Volksgericht Wien, an dem 11.230 und somit etwa die Hälfte aller in Österreich abgeschlossenen Anklagen verhandelt wurden. Butterweck breitet in seiner Arbeit 840 Fälle mit insgesamt 1137 freigesprochenen oder verurteilten Angeklagten vor uns aus. Er lässt uns Ausschnitte der damaligen Gerichtssaalberichte lesen.

Wir stoßen auf alle heimischen Verfahren gegen "Nationalsozialisten vor dem Volksgericht Wien", die in den Tageszeitungen der Nachkriegsjahre von 1945 bis 1955 erwähnt wurden. Jedes Jahr bespricht Butterweck zunächst in einer kurzen Einleitung. Er geht auf die jeweiligen politischen Bedingungen ein. Danach fährt Butterweck in chronologischer Ordnung die Fälle auf und zitiert dabei aus den jeweiligen Prozessreportagen, wobei die Passagen so luzide montiert und so lakonisch kommentiert sind, dass der Leser vollkommen vergessen könnte, eine historische Studie in Händen zu halten. Aber der wissenschaftliche Apparat bestätigt, worum es sich bei dieser geistigen Kärrnerarbeit handelt. Das umfangreiche Personenverzeichnis ermöglicht die schnelle Suche nach den Angeklagten, den Opfern, den Zeugen, den Richtern, den Staatsanwälten und den Verteidigern.

Mit der präzisen Darstellung der Einzelfälle schafft Butterweck ein Panorama des nazistischen Verbrechensregimes. Gleich in der Schilderung des ersten Verfahrens ist von der schrecklichen Bestialität zu lesen, mit der Zwangsarbeiter durchs Land getrieben und noch in den letzten Tagen ermordet wurden. Immer wieder wird die Habgier im nationalsozialistischen Alltag beschrieben. Butterweck weist auch darauf hin, was verschwiegen wurde. Er zeigt auf, welche Milde viele Täter erfuhren, während jüdische Opfer, die sich nur durch Betrug falsche Papiere und ihr Überleben gesichert hatten, streng bestraft wurden.

Monumentales Quellenwerk

Oliver Rathkolb schreibt im Vorwort zu Recht, dass "keine zeitgeschichtliche Arbeit zum Thema Nachkriegsjustiz über dieses monumentale Quellenwerk von Butterweck hinweggehen kann". Ich möchte dem hinzufügen, nicht nur Wissenschafter, auch Laien werden sich der Faszination des Buches nicht entziehen können. Hätte jemand anderer als Butterweck das vermocht? Das nationalsozialistische Unrechtsregime und seine unzureichende Aufarbeitung in der Zweiten Republik sind die Themen dieses Autors, der seit der Jugend geprägt blieb von seinen Erfahrungen als Zwangsarbeiter für die deutsche Rüstungsindustrie. Als einstiger Wissenschaftsjournalist und Theaterkritiker weiß er die Artikel so spannend zu montieren, dass sich die Fälle beinah wie ein Krimi lesen.

Vom Dramatiker Butterweck stammt wiederum das 1982 aufgeführte Stück Das Wunder von Wien, in dem er sich früh bereits mit dem heimischen Antisemitismus auseinandersetzte. In seinem Roman Tote im Verhör (2008) verarbeitete er zudem seine Studien über das Volksgericht. Seit den Achtzigern forschte er zu dieser Frage. 2003 erschien seine wichtige Studie "Verurteilt und begnadigt – Österreich und seine NS-Straftäter". In seinem neuen und umfangreichsten Werk klingen alle früheren wissenschaftlichen und literarischen Schriften des Autors Hellmut Butterweck durch. Es ist, ohne den Wert der früheren Publikationen mindern zu wollen, zweifellos sein Opus magnum. (Doron Rabinovici, 7.5.2016)