Wien – Österreich leidet unter den Nachwirkungen der 2008 ausgebrochenen Finanz- und Wirtschaftskrise. So viel ist den meisten Menschen bewusst. Die Zahl der Arbeitslosigkeit wächst schließlich seit Jahren, und die Staatsverschuldung ist als Folge der Bankenrettungen gestiegen.

Doch eine wirkliche Wahrnehmung dazu, wie miserabel die ökonomische Entwicklung im Land eigentlich ist, fehlt in der Gesellschaft. Mit dieser These lässt der renommierte Arbeitsmarktexperte August Gächter in einer neuen Untersuchung aufhorchen.

Gächter, der am Zentrum für Soziale Innovation in Wien forscht, hat sich die bisherigen Krisenperioden in Österreich seit 1945 angesehen. Die ersten Jahrzehnte waren vom stetigen Aufschwung gekennzeichnet. Von 1960 bis 1974 etwa gab es kein Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von unter 2,5 Prozent. Selbst in der Periode nach dem Ölpreisschock von 1973 wuchs die Wirtschaft immer robust, obwohl diese Zeit vielen Menschen als turbulent in Erinnerung ist.

Vier Abschwünge

Seit 1979 hat Gächter aber vier Krisenphasen mit konjunkturellen Einbrüchen identifiziert. Die erste zwischen 1980 und 1987 nach dem zweiten Ölpreisschock. Die zweite zwischen 1992 und 1997, die dritte von 2001 bis 2005 und die vierte schließlich von 2008 bis heute. Bezeichnend ist, dass die Dauer des Aufschwungs mit jeder Krise kürzer und schwächer geworden ist.

Auf die erste Krise nach 1979 folgte etwa eine vier Jahre dauernde kräftige Erholung mit Wachstumsraten von 3,2 bis 4,7 Prozent. Nach der zweiten Krise folgten immerhin noch drei Jahre mit robustem Wachstum, nach der dritten nur mehr zwei. Seit Ausbruch der vierten Krise 2008 gab es nur mehr ein Jahr mit Wachstum von real mehr als zwei Prozent.

In den vergangenen vier Jahren lag das Wirtschaftswachstum sogar immer unter einem Prozentpunkt. Das hat es in Österreich bisher noch nie gegeben.

Eine Erklärung für die immer kürzer werdenden Erholungsphasen ist, dass die Wirtschaft in den Industrieländern generell in einer lang anhaltenden Abschwungswelle steckt. Sie zu durchbrechen wird immer schwerer.

Das "Problem" laut Gächter ist, dass das Miniwachstum zu "einer Täuschung" verleitet. "Weil es in den vergangenen Jahren in Österreich immer ein wenig aufwärtsging, wird die Krise, die schwerste seit Menschengedenken, nicht richtig wahrgenommen."

Zu wenig Wachstum für Trendwende

Belegen lasse sich dieses Argument anhand der Debatten über den heimischen Arbeitsmarkt. Aus Erfahrungswerten ist bekannt, dass die Arbeitslosigkeit in Österreich erst zu sinken beginnt, wenn das Wachstum über 2,5 Prozentpunkten liegt. Davon ist das Land weit entfernt. Allein deshalb hat die Zahl der Menschen ohne Arbeit dramatisch zugenommen, so Gächter. Die Arbeitslosigkeit in Österreich ist vor allem unter Menschen mit geringer Qualifikation stark angestiegen. Dieser Anstieg korreliert exakt mit der miserablen Konjunkturentwicklung, so wie man das aus vergangenen Krisen kennt.

Die öffentlichen Debatten gehen dennoch oft am eigentlichen Problem vorbei, so der Arbeitsmarktexperte. Etwa wenn Migranten aus Osteuropa oder Flüchtlinge für die Lage verantwortlich gemacht werden. Zuletzt hat Arbeiterkammer-Direktor Werner Muhm kritisiert, dass der Zuzug von Osteuropäern die Arbeitslosigkeit steigen lasse. Muhm forderte die EU auf, Einschränkungen der Personenfreizügigkeit anzudenken.

Aussagen wie jene Muhms sind für Gächter dennoch "Nebelgranaten", also Ausdruck eines "fehlenden Verständnisses" dafür, wo die wahren Probleme liegen. Aber gibt es wirklich keine Verdrängungseffekte? Höher qualifizierte Arbeitnehmer aus Osteuropa bekommen im Inland weiter Jobs, während gering qualifizierte Österreicher leer ausgehen. Diese Entwicklung ist für Gächter eine Folge davon, dass heimische Unternehmen qualifizierte Arbeitskräfte noch nie so günstig bekommen haben wie heute.

700 Euro billiger

Ein Arbeitnehmer aus Ungarn, der Slowakei oder Tschechien kommt einem Unternehmen bei gleicher Ausbildung, gleichem Alter und Geschlecht im Schnitt um 700 Euro pro Monat billiger als eine österreichische Arbeitskraft.

Firmenchefs können also gut qualifizierte Arbeitnehmer aus Osteuropa günstig einstellen, selbst um sie für Hilfstätigkeiten einzusetzen. Ein Beispiel wäre der Ungar mit Hochschulabschluss, der in der Küche Teller wäscht.

Wird der Blick auf die Krise von Scheindebatten verstellt? Gächter sagt: Ja.
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Wenn es diese Hilfskräfte aus Osteuropa nicht gebe, würden die Arbeitsplätze aber nicht an niedrig qualifizierte Österreicher gehen, so Gächter. Die Jobs würden stattdessen verschwinden. Warum? "Weil es sich für die meisten Firmen nicht auszahlen würde, schlechter qualifizierte Angestellte zu nehmen."

Zur Erklärung: Je schlechter die Ausbildung eines Menschen ist, umso teurer und umständlicher wird es für Unternehmer, ihn einzusetzen. Fazit des Arbeitsmarktökonomen: "Selbst wenn keine Flüchtlinge und kaum Osteuropäer auf den heimischen Arbeitsmarkt drängen würden, wäre die Situation nicht besser."

Verkomplizierend kommt hinzu, dass es wenig Ideen gibt, wie man aus der Schwächeperiode herauskommt. Die Konjunkturflaute ist ja ein globales Phänomen, trifft Europa, wie die USA und Japan. Eine Steuerreform, etwa eine Entlastung des Faktors Arbeit, könnte Impulse, aber wohl kaum eine Wende bringen. Ein Schritt, um eine politische Debatte über Auswege in Gang zu bringen, wäre es, sich der Tiefe der Krise bewusster zu werden, so Gächter. (András Szigetvari, 6.5.2016)