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Potenziell von Radikalisierung gefährdete Jugendliche schwänzen häufiger die Schule und ziehen sich zurück.

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"Alle hatten ein Gefühl der Heimatlosigkeit. Alle hatten vor ihrer Radikalisierung kein islamisches Denken. Keiner hatte eine spezifische Kenntnis des Islam", erklärt Gabriele Wörgötter, die im vergangenen Jahr als Gerichtspsychiaterin bei Jugendlichen unter Anklage nach dem Terrorparagrafen interessante Beobachtungen gemacht hat. Sie deuten vor allem auf einen psychosozialen Hintergrund von Radikalisierung hin.

Terrorismus und Radikalisierung junger Menschen sind keine psychiatrische Krankheit, sind auch andere Experten sich einig. Bei den Jugendlichen, die in Österreich wegen Terrorismus angeklagt wurden, handelt es sich um sozial benachteiligte, ausgegrenzte Personen, die eher im Rahmen einer Entwicklungsstörung von Verführern missbraucht worden sind, erklären führende Psychiater. Das ergänzte sich offenbar mit Orientierungslosigkeit und schuf ein Vakuum, in dem die Jugendlichen für radikale Ideen – wahrscheinlich in jeder Form – anfällig wurden.

"Ich habe sechs Jugendliche untersucht. Der jüngste war knapp 14 Jahre alt, der älteste etwas mehr als sechzehneinhalb Jahre alt. Es waren alle männliche Jugendliche", sagt Wörgötter. Das Verlockende der Radikalisierung wäre bei allen Untersuchten gewesen: "Einfache Wahrheiten, Gemeinschaftsgefühl, klare Identitäten und Feindbilder, machtvolle Rhetorik, Abenteuer und Sinngebung." Im Grunde hätte es sich noch um Kinder gehandelt. "Sie sehen auch so aus."

Von Gleichaltrigen ausgegrenzt

Die Gemeinsamkeiten in der Lebensgeschichte der Jugendlichen, die zum Teil für den IS nach Syrien gegangen, zum Teil nach Österreich zurückgekehrt waren und zum Teil auch in Österreich verdächtigt worden waren, Anschläge zu beabsichtigen, seien frappant gewesen, sagt die Expertin: "Keiner der Jugendlichen hatte eine psychiatrische Erkrankung. Alle hatten eine frühe Bindungsstörung. Bei allen fehlte die Vaterfigur. Alle Jugendlichen waren vor ihrem 'Anschluss' an den IS sozial isoliert und aus ihrer Peer Group (Gleichaltrige; Anm.) ausgegrenzt." Zerbrochene Familien, Isolation etc. seien markante Hintergrundbedingungen gewesen.

Wie weit die Radikalisierung gehen kann, schildert die Expertin gemäß den Erfahrungen, die einer der Betroffenen beim IS gemacht hatte. Nach dem Grenzübertritt von der Türkei nach Syrien seien die Jugendlichen in ein Lager mit 250 Gleichaltrigen gekommen. Es wurden vom IS zwei Gruppen gemäß der Frage gebildet, ob der Einzelne bereit sei, sich als Selbstmordattentäter zu engagieren oder nicht. 60 Prozent der Jugendlichen hätten sich als Selbstmordattentäter gemeldet, sagt Wörgötter.

Der Wiener Sozialpsychiater Johannes Wancata fasst die psychosozialen Hintergründe für Radikalisierung und Terror so zusammen: "Es gibt keine Krankheit, die zu Terrorismus führt. Terroristen sind nicht krank, sie sind zumeist gesund und sogar sehr gesund." Es handle sich nicht um Krankheit, sondern um Verhaltensweisen.

Psychologische Kriegsführung

Umgekehrt könne man an der Reaktion von Politik und Öffentlichkeit auf den Terrorismus den Zustand der Gesellschaft ablesen – auch den Erfolg, den solche Gewaltakte haben. "Terrorismus ist eine Form der psychologischen Kriegsführung", betont Wancata. Terrorakte zielten über das Leid der direkt Betroffenen hinaus und seien geplant, um die gesamte Gesellschaft zu treffen.

Der Sozialpsychiater warnt vor falschen Reaktionen auf die Terrorgefahr: "Wenn wir uns auseinanderdividieren lassen, hat der Terrorismus das erreicht, was er wollte. Wenn wir Reisefreiheit, Pressefreiheit und die Grundrechte eingeschränkt haben, haben die Terroristen Erfolg gehabt." Die Linzer Gerichtsmedizinerin Adelheid Kastner spricht von einer "Radikalisierung der Mehrheitsbevölkerung" als Konsequenz überzogener Terror- und Migrationsängste.

Das gleiche gilt laut den Experten auch für Einschränkungen im Asylwesen und bei der finanziellen Absicherung der Kriegsflüchtlinge. Der in der interkulturellen Psychiatrie aktive Psychiater Thomas Stompe warnt: "Die Idee, Asyl nur für drei Jahre zu geben, behindert die Integration. Es ist ein Teufelkreis, in den wir da geraten."

Terrorist wird, wer "etwas erleben will"

Kastner definiert vier Typen von Personen, die für Rechtsradikalismus wie für Radikalismus insgesamt anfällig seien: "Da sind erstens gewaltbereite Menschen, die 'etwas erleben' wollen, Personen auf der Suche nach einer Idee, die sie ausleben können. Dann ist da die Gruppe der Mitläufer, die sich unreflektiert der Position eines Leithammels anschließen. (...) Relativ klein ist jene Gruppe, die wirklich eine Idee transportieren will. Und dann sind da die psychisch Kranken im engeren Sinn. Sie meinen, alle Menschen denken so wie sie."

Der norwegische Massenmörder Anders Breivik falle wohl in die Kategorie jener, die "ihren Wahn" ausleben würden. Auch der Bombenbauer Franz Fuchs hätte am Ende wohl zu dieser Gruppe gehört, meint die Linzer Gerichtspsychiaterin. Rechtsradikalen sei oft die völlig falsche Vorstellung gemein, die Bevölkerung würde im Grunde auf ihrer Seite stehen. Aber, wie die Expertin betont: "Es besteht zwischen Rechtsradikalen und anderen Radikalen kein wesentlicher Unterschied."

Die Frage ist, wie man potenziell von Radikalisierung gefährdete Kinder und Jugendliche frühzeitig finden und ihnen helfen könnte. Dazu meint Wörgötter, dass vor allem in der Schule Auffälligkeiten bemerkt werden sollten. Dazu gehörten auch Schulabsenzen und sozialer Rückzug.

Das Jugendamt stimmt zu

Mangelnde Unterstützung und Hilfe für sozial Benachteiligte waren jedenfalls bei einigen Fällen, welche die Psychiaterin begutachtete, gegeben. "Einer wurde in die Sonderschule abgeschoben und hat darunter gelitten. Sein einziger 'Fehler' war, dass er türkische Eltern hatte, die das akzeptierten." Der Bursche hätte sich ständig geschämt und sei in die Isolation geraten. In einem zweiten Fall sei den völlig insuffizienten Eltern die Obsorge über ihren Sohn entzogen worden. "Im Alter von zwölf Jahren hat er gesagt, er will zum Islam übertreten. Und das Jugendamt stimmt zu."

In einem dritten Falle hätte man der des Deutschen nicht mächtigen verzweifelten Mutter eines Jugendlichen, der nur IS-Gewaltvideos anschaute, in Niederösterreich einfach eine "Visitenkarte" in die Hand gedrückt mit jener Stelle, an die sie sich in Wien mit ihren Sorgen wenden könne. Die Frau sei damit schlicht überfordert gewesen. Schließlich sollten laut den Fachleuten auch Äußerungen von Jugendlichen in sozialen Medien aufmerksam gelesen werden. Oft komme es nämlich im Lauf eines drohenden Abgleitens in die Radikalisierung zu einem "Leaking", also zum Verbreiten von Indizien für eine solche Entwicklung. (APA, 29.4.2016)