Vieldeutige Regie: In Puccinis "Turandot" ist Yusif Eyvazov als Calaf und auch als leidender Komponist Puccini unterwegs.

Foto: Pöhn

Wien – Keine Ahnung, ob Marco Arturo Marelli die Tribute von Panem- Verfilmung im Blick hatte, als er für Turandot vollbesetzte Zuschauerreihen zum Teil des Bühnenbilds erkor. In diesen sitzend, ergötzen sich leichenblasse, jedoch recht kostbar dekorierte Figuren am tödlichen Rätselspiel, dem Prinzessin Turandots Adoranten zum Opfer fallen.

Die Begeisterung über das Spiel, bei dem Köpfe rollen (und bei Marellis Regie in Präpariergläsern landen), erinnert jedenfalls an die gruselige Begeisterung, die in Tribute von Panem während jener von einer Diktatur angeordneten tödlichen Hungerspiele herrscht. Marelli hatte allerdings – falls überhaupt – sicher nicht nur die Persiflage eines totalitären Systems im Sinn. Das Essenzielle seiner Arbeit ist das Changieren zwischen und das Verschmelzen von Realitätsebenen.

Da sind Schwertkünstler, Salto- und Spagatakrobaten, Kampfsportgesten und Clownerien werden zelebriert. Doch zwischen Revuespektakel und intimen Szenen, in denen ein Komponist in seiner Schreibstube am Klavier oder überm Notenpapier verzweifelt, herrscht jederzeit Balance. Der Tonsetzer leidet außerhalb und innerhalb seiner Oper, er ist Puccini und dann auch Calaf. Und die ihm zugetane Liu könnte auch jene Doria sein, die im Hause Puccini lebte und sich das Leben nahm. Bei Marelli sind die Ebenen traumhaft miteinander verwoben, die Flexibilität des Bühnenbildes befördert leichtfüßige szenische Verwandlungen.

Marelli zeigt: Es ist möglich, zugänglich zu bleiben und doch diskret in Deutungsräume einzudringen, in denen etwa die grausame Prinzessin eine Art einsame Diva ist, die sich schließlich zur Aufgabe ihrer Unnahbarkeit durchringt. Zu diesem Finale hin gerät Marellis Regie allerdings ein bisschen matt. Es scheint ihr die Luft auszugehen, der Glanz eines besonderen Schlusses fehlt.

Immerhin kam der musikalische Teil zu Hilfe: Lise Lindstrom (als Turandot) kann die Schärfen ihrer dramatischen Stimme erst zum Schluss hin – aber grandios – in den Dienst der emphatischen Vermenschlichung der Figur stellen. Bewundernswert die Energie, mit der sie diese Partie im Finish ausstattet. Yusif Eyvazov (als Calaf für Johan Botha eingesprungen) bewältigt alle Spitzentöne effektvoll und liefert mit seiner markanten, aber nicht besonders farbflexiblen Stimme eine respektable Leistung, die leider frei blieb von schauspielerischen Ausbrüchen aus Klischeegesten.

Nicht ausgewogen

Anita Hartig (als Liu) tönte zunächst etwas unausgewogen. Es gelingt ihr jedoch schließlich, vokal berückend in die Rolle einzutauchen. Ansonsten solide bis sympathische Darbietungen: etwa vom engagierten, nicht immer sauberen Chor, von Heinz Zednik (als Altoum), Dan Paul Dumitrescu (als Timur), Paolo Rumetz (als Mandarin), Gabriel Bermudez (als Ping), Carlos Osuna (als Pang) und Norbert Ernst (als Pong).

Dirigent Gustavo Dudamel lässt das Staatsopernorchester das meiste bis zum grellen Effekt ausreizen, was behutsame Umsetzung erfordert hätte. Klanglich delikate Momente waren zwar zugegen; eine ausgewogene, zugleich aber interessante Sicht der Partiturdinge war das leider noch nicht. Es gab Applaus, Buhs trafen Lindstrom und Dudamel heftig, etwas weniger Calaf und deutlich doch die Regie von Marelli. (Ljubisa Tosic, 29.4.2016)