Präzise und lakonisch erzählte Geschichte: Alba.

Foto: IFFF

Adela Sequeyros Spielfilm La mujer de nadie aus dem Jahr 1937.

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Die dramatische Lage in Nahost oder zuletzt auf dem Balkan hat die Aufmerksamkeit der letzten Monate von weiter westlich gelegenen Konfliktzonen für die Menschenrechte abgelenkt. Das änderte sich dieser Tage kurz, als die unabhängige interamerikanische Menschenrechts-Kommission GIEI in Mexiko unter Protest die Beendigung ihrer Untersuchung der Verbrechen an den verschwundenen Studenten von Ayotzinapa vor der endgültigen Aufklärung bekanntgab.

In ihrem Abschlussbericht beklagt sie massive Behinderungen durch die Behörden, nachdem die Ermittlungen der Kommission entgegen der offiziellen Version die Beteiligung staatlicher Institutionen an den Taten festgestellt hatten. Der vorzeitige Rückzug ist ein schwerer Schlag für die Angehörgen und Unterstützer der Opfer vom 26. September 2014, aber auch für die der anderen über 70.000 Menschen, die unter ähnlichen Umständen in Mexiko "verschwunden worden" sind.

Fast parallel kam gerade in Köln eine Gruppe mexikanischer Filmregisseurinnen und Produzentinnen auf einem Podium zusammen, um im Rahmen eines von Sonja Hofmann kuratierten Mexiko-Specials des Internationalen Frauenfilmfestivals Dortmund Köln die Bedeutung dieser strukturellen Gewalt für ihre Arbeit zu erörtern. Dabei waren sie sich einig, dass die eigene Betroffenheit wesentliches Movens für ihre oft riskante Filmarbeit sei, auch wenn bisher keine Filmemacher gezielt Opfer wurden. Individuell als eine Therapie durch Provokation; gesellschaftlich als Versuch, der Angst und dem Schweigen die vielfältige Präsenz lebendiger und widerständiger Stimmen entgegenzustellen.

Kritische Projekte bewusst gefördert

Das funktioniere im Produktionsbereich derzeit erfreulich gut, hieß es, die journalistisch durchaus präsente Zensur habe es in den Filmbereich (bisher) nicht geschafft, von der staatlichen Filmförderung würden kritische Projekte sogar bewusst gefördert. Und mit einem Frauenanteil von 30 Prozent in der Regie stehen die mexikanischen Regisseurinnen im Vergleich mit Europa am oberen Ende. Allerdings kämpfen die fertiggestellten unabhängigen Produktionen – wie andernorts auch – oft vergeblich um einen angemessenen Kinoauftritt.

Frauen sind von der Repression als Opfer sexualisierter Gewalt und Mütter verschleppter Kinder besonders betroffen, wie es eindringlich die Arbeiten von Tatiana Huezo zeigen, In ihrem Dokumentarfilm Tempestad montiert sie zu erschütternd schönen Bildern einer Busreise durch Mexiko ausführliche Berichte zweier Frauen, von denen die eine nach der Festnahme durch die Polizei unter falschem Vorwand in einem von Drogenkartellen betriebenen "inoffiziellen" Gefängnis landete, die andere ihre Tochter vermutlich an Menschenhändler verlor. Auch in Huezos ebenso bildstarkem Kurzfilm Ausencias ist es eine junge Mutter, die aus heiterem Himmel Ehemann und Sohn an ungreifbare Entführer verliert.

Gran Premiere

Gespiegelt werden diese düstere Geschichten aus dem aktuellen Mexiko in einem Filmporträt, das die Regisseurin Natalia Bruschtein mit Laura Bonaparte der Mitbegründerin der Madres de Plaza de Mayo in Argentinien widmete (El tiempo suspendido), die in den End-1970ern um Wahrheit für ihre aus politischen Gründen verschleppten und ermordeten Kinder kämpfte und auf der Flucht vor der argentinischen Militärdiktatur in Mexiko noch ebenso ein sicheres Asyl fand wie eine Generation vorher die Exilanten aus Nazideutschland.

Als Referenz an ein ganz anderes (in der mexikanischen Filmgeschichte das sogenannte Goldene) Zeitalter kam Adela Sequeyros Spielfilm La mujer de nadie aus dem Jahr 1937. Dabei muss allerdings ein kleiner Fehler im Katalog richtig gestellt werden, bevor er durch Copy-and-Paste zur filmhistorischen Wahrheit entstellt wird. Denn die Produktion – wie im Grußwort der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Rekers – als ersten von einer Frau gedrehten mexikanischen Film zu benennen, wäre doch schwerer Verrat an Frauen wie Mimi Derba oder den Schwestern Adriana und Dolores Elhers, die schon in den 1910er-Jahren als Produzentinnen und Regisseurinnen reüssierten.

Dies macht die im 19. Jahrhundert angesiedelte und entsprechend altmodisch inszenierte Geschichte um eine vor Misshandlungen ihres Stiefvaters davongelaufene (und von Sequeyro selbst dargestellte) Frau, die halbverhungert von drei misogynen Künstlern aufgenommen und bald auch vergöttert wird, nicht weniger amüsant. Und zu einem hellsichtigen Kommentar zur Repräsentation von Weiblichkeit in den Künsten. Eine ästhetische Hellsichtigkeit, die Männern nicht grundsätzlich abgeht, in ihrem praktischen Schaffen aber doch eher rar ist – so verschärft Sequeyros Film als selbstreflexiver Kommentar noch einmal schön die Aufmerksamkeit für die blickpolitische Bedeutung von frauenfokussierten Filmschauen wie in Köln.

Coming-of-Age-Filme

Beispiele hierfür auch die auffallend präsenten Coming-of-Age-Filme im Wettbewerb für Debütspielfilme, die problematisch aufwachsende und sperrige Mädchen aus der Negev-Wüste (Sand Storm, R: Elite Zexer) oder den Badlands von North Dakota (Songs My Brothers Taught Me, R: Chloé Zhao) in den Fokus nehmen. Allen voran die präzise und lakonisch erzählte Geschichte von Alba, die wegen einer Krankheit ihrer Mutter zum getrennt lebenden Vater ziehen muss und im Wettbewerb ihrer wohlhabenden Mitschülerinnen um coole Auftritte und die anmutigsten Tanzschritte keine Chance hat. Eine (übrigens wesentlich aus Mexiko koproduzierte) Preziose aus dem bisher eher unbeschriebenen Filmland Ecuador, für das Regisseurin Ana Cristina Barragán zu Recht den mit 10.000 Euro dotierten Hauptpreis erhielt. (Silvia Hallensleben, 26.4.2016)