Macht braucht Kontrolle. Zumindest dieses für Vorvorgänger Thomas Klestil plakatierte Motto ist als Wählerauftrag für den nächsten Bundespräsidenten jetzt schon klar. Gleichgültig, ob am 8. Juli Norbert Hofer oder Alexander Van der Bellen in die Hofburg einzieht, die schiefe Ebene zum Kanzleramt auf der anderen Seite vom Ballhausplatz wird neu gewinkelt. Erstmals seit 1986 gehört dann der höchste Repräsentant im Staat keiner Regierungspartei an. Kurt Waldheim versus Franz Vranitzy und Norbert Steger währte aber nur wenige Monate. Eine echte Gegenüber-Konstellation hat es in der Zweiten Republik nur einmal in der Quasi-Zwei-Parteien-Ära gegeben: 1966 bis 1970 mit dem roten Franz Jonas als Begleiter der schwarzen Alleinregierung unter Josef Klaus. Doch schon die Bezeichnung "Antipode" wäre für die historische Amtsausübung eine Übertreibung.

Genau dieses Funktionsverständnis wird mehr noch als im ersten Wahlgang das vierwöchige Duell zwischen Hofer und Van der Bellen beherrschen. Am 22. Mai fällt auch die Entscheidung darüber, wie viel "checks and balances" die Österreicher haben wollen, wie stark sie den Bundespräsidenten als Kanzlerwärter sehen möchten. Dass die Verfassung dafür mehr Möglichkeiten lässt, als von den bisherigen Amtsträgern genutzt, hat schon die erste Runde des Wahlkampfs geprägt. Dass die Machtkontrolle dieses republikanischen Aufsichtsrats nicht so weit reicht, um den Vorstand des Unternehmens Staat zu einer lahmen Ente zu degradieren – wie durch einen parteilich gegensätzlich besetzten Senat in den USA: Das unterschlagen die Allmachtsfantasien.

Da es nun um die Hälfte und nicht bloß ein Viertel der Stimmen geht, müssen beide Kandidaten ihre bisherigen Positionen entweder mehrheitsfähig verwässern oder sogar noch weiter schärfen. Je nachdem ob sie Mobilisierung durch Polarisierung oder Maximierung infolge Integration als Erfolgsrezept sehen. Die Rückversicherung durch Meinungsforschung ist dabei so wahrscheinlich wie die mangelnde Mehrheitsfähigkeit beider Extrempositionen. Strache als Kanzler nicht anzugeloben, auch wenn die FPÖ deutlich voranliegt, widerspricht dem landläufigen Demokratieverständnis ebenso wie die Entlassung der Regierung aufgrund einer Sachentscheidung. Wer auf einen solchen Rollenwandel des Bundespräsidenten pocht, bedient jeweils nur Parteigänger und Extreme, vernachlässigt aber die gemäßigtere, zunehmend wechselwählerische Mitte.

Eine solche Rechnung mit insgesamt geringer Wahlbeteiligung bei gleichzeitiger Ausschöpfung der eigenen Potenziale übergeht allerdings den früheren Wirt: Ungeachtet ihrer vielleicht größten Niederlage bleiben SPÖ und ÖVP die Königsmacher – wenn sie nur wollen. Ihre allfällige Wahlempfehlung oder gar die Mitwirkung der Apparate entscheiden. Beide sitzen jedoch in kaum aufzulösenden Zwickmühlen. Eine vermeintlich logische Rot-Präferenz für Grün ignoriert den enormen Wählerstrom einstiger Kernzielgruppen von SPÖ zu Freiheitlichen. Der eigentlich folgerichtige Blau-Tipp von Schwarz missachtet die unvereinbaren Europa-Positionen der Mitte-rechts-Parteien.

Das macht einen wirklichen Lagerwahlkampf noch unwahrscheinlicher, als er infolge der Bundes- und vor allem Landeskoalitionen ohnehin ist: sieben VP-, fünf grüne, vier SP- und zwei FP-de-Facto-Regionalregierungsbeteiligungen, doch nur noch eine wirkliche großkoalitionäre Zweierbeziehung (in der Steiermark). Aber auch "Alle gegen Blau" erscheint wenig opportun angesichts der jeweiligen Optionen im Burgenland und in Oberösterreich. Umgekehrt vermag jedoch die FPÖ sehr wohl die alles überlagernde Flüchtlingsfrage auszuspielen. Vorausgesetzt diese ist in der freiheitlichen Behandlungsweise so mehrheitsfähig, wie die Trittbrettfahrt erst von Volkspartei und dann auch den Sozialdemokraten vermuten lässt. Dagegen haben Van der Bellen und die Grünen nur die Karte Europa in der Hinterhand – ein fragwürdiger Trumpf angesichts der rasant wachsenden EU-Skepsis der Bevölkerung, aber ein Thema, bei dem SPÖ und ÖVP zumindest Unionsflagge zeigen müssen.

Letztlich wird das Stechen noch mehr als der erste Wahlgang durch die Kraft der Persönlichkeiten entschieden. Das aktuelle Mobilisierungsdebakel der beiden größten Parteiapparate und der rasante Aufstieg von Irmgard Griss beweist einerseits, wie einflussreich neue und alte Medien sind – wenn die Person sympathisch und authentisch sowie das Programm schlüssig und verständlich sind. Es zeigt andererseits den dadurch entstehenden Verantwortungszuwachs für die demokratische Entscheidungsfindung. Nicht nur die Meinungsforschung, auch der etablierte Journalismus hat Hofer und die FPÖ bisher unterschätzt.

Diese Zäsur der Republik auf den Tag genau 33 Jahre nach der Rücktrittserklärung von "Sonnenkönig" Bruno Kreisky als Bundeskanzler ist das Ende eines Anfangs. Es bleibt die Frage: Wovon? SPÖ und ÖVP haben vier Wochen Zeit sich konstruktiv an einer Wahl zu beteiligen, bei der sie kurzfristig nichts gewinnen können – aber langfristig alles verlieren. Der 24. April 2016 ist sicher ein Wendepunkt, aber nur bei fahrlässiger Vernachlässigung von Konsequenzen der Anfang vom Ende. (Peter Plaikner, 24.4.2016)