Still aus der digitalen Adaption einer Choreografie der berühmten Amerikanerin Deborah Hay, produziert für das Motion Bank Institute in Frankfurt: motionbank.org.

Foto: Amin Weber

Wien – War da etwas? Wenn ja, kann das im Nachhinein nur durch Dokumente belegt werden. Die Heimstätten solcher Belege sind Archive. Warum ausgerechnet der zeitgenössische Tanz besonderes Interesse an Dokumenten hat, ist gerade Thema von Scores N°11, einem international besetzten Kunst- und Wissenschaftsereignis unter dem Titel "Archives to come", das derzeit im Tanzquartier Wien läuft.

Auf dem Programm stehen bis Sonntag Performances, Installationen, Workshops, Trainings, Vorträge und Diskussionen. Einen Film gibt es am Samstag auch zu sehen: sinnvollerweise François Truffauts Fahrenheit 451 von 1966 nach dem dreizehn Jahre davor publizierten, gleichnamigen Longseller von Ray Bradbury. Anders als die in Büchern bewahrte Literatur "verbrennen" Livekunstwerke bereits im Augenblick ihrer Veröffentlichung. Tanz ist also nicht archivierbar – im Gegensatz zu den Medien, die Tanzstücke aufzeichnen können. Vor allem Videos sind heute günstig zu handhaben und via Internet leicht zu distribuieren.

Das Tanzquartier Wien etwa hat zu Beginn der aktuellen Saison auf seiner Website eine sehr brauchbare Mediathek online gestellt, auf der zurzeit bereits rund 400 Videos abrufbar sind und die auch von außen mit Tanzaufzeichnungen befüllt werden kann. Ein bleibendes Verdienst von Intendant Walter Heun, der die Institution im Sommer nächsten Jahres verlassen wird.

Am Eröffnungsnachmittag und -abend von "Archives to come" am Donnerstag wurde breit angerissen, worum es in der Archivdiskussion geht. Auf künstlerische Art zum Beispiel in der ironischen Show Choreographic Games von Rémy Héritier und Laurent Pichaud mit Anne Juren, Saskia Hölbling und der Tanzwissenschafterin Nicole Haitzinger: ein Ratespiel mit Publikumsbeteiligung um das Wiedererkennen von Tanz, künstlerischen Ideen und einer richtig oder falsch nachgetanzten John-Travolta-Nummer aus dem Film Saturday Night Fever (1977).

Ernster geht es bis Sonntag in der aufwendigen Installation Transforming Acts von Penelope Wehrli und Detlev Schneider zu. Dokumentiert soll da in Wort und (Lauf-)Bild werden, wie sich der Tanz in den 1980er-Jahren zum Impulsgeber für andere Bühnenkünste aufschwang. Das Ergebnis ist ernüchternd: Robert Wilson und Pina Bausch in den Seventies, Meg Stuart in den Nullerjahren, Einar Schleefs Sportstück von 1998 neben der New Yorker Wooster Group – die Zusammenhänge bleiben im Dunkeln. Auch wenn der Jan Fabre von heute im Video lang und länger einfach dasitzt, vor sich hinschaut und seine Zigaretten genießt.

Dafür erschlossen sich bei den Lectures eines "Discoursive Opening" die Dimensionen der Arbeit am kulturellen Gedächtnis. Andrea Amort zeigte sich als leidenschaftliche Nachlassforscherin der österreichischen Tänzerin und Choreografin Rosalia Chladek (1905-95). Die ehemalige Tanzquartier-Dramaturgin Martina Hochmuth führte die anarchischen Aktivitäten von Boris Charmatz Musée de la Danse vor, für das sie heute arbeitet. Und der britische Experte für digitale Choreografie Scott deLahunta präsentierte reichlich Wunderwerke aus William Forsythes Frankfurter Motion Bank Institute, das er heute leitet.

Am Samstag belegt Claudia Bosse, was für ein Archiv der Körper ist, serviert Siobhan Davis ihr Archiv im Leopold-Museum, zeigt Daniel Aschwanden Archivalien von Flüchtlingen, und Arkadi Zaides bringt den Konflikt zwischen Israel und Palästina in die TQW / Halle G. (Helmut Ploebst, 22.4.2016)