"Sobald ein Möbel serienreif ist und auf den Markt gebracht wurde, versuche ich nicht so blöd zu sein, mich noch einmal draufzusetzen. Das wäre frustrierend", sagt Piero Lissoni.

Foto: Giovanni Gastel

Sofa "Extrasoft" für Living Divani.

Foto: Living Divani

Küche "Open" für Boffi.

Foto: Boffi

Restaurant Filippo La Mantia in Mailand.

Foto: Gianmarco Chieregato

Apartment Solferino in Mailand.

Foto: Tommaso Sartori

STANDARD: Gibt es ein Ding, das Sie noch nicht entworfen haben?

Piero Lissoni: Viele. In erster Linie einmal all die vielen Entwürfe, um die man mich erst morgen bitten wird.

STANDARD: Und was wird da alles darunter sein?

Lissoni: Mir gefällt die Idee, meinen Beruf als Humanist auszuüben. Insofern wünsche ich mir nach wie vor viele Aufträge, die sich am Maßstab Mensch orientieren.

STANDARD: Ist das nicht die Aufgabe des Designs und der Architektur, des Entwerfens von Dingen und Räumen an und für sich?

Lissoni: Möchte man meinen. Tatsächlich jedoch haben wir seit der Antike und der Renaissance sehr viel verlernt. All das, was Vitruv, Michelangelo, Leonardo da Vinci und all die anderen genialen Köpfe in den letzten 2000 Jahren entwickelt haben, scheint man heute vergessen zu haben. Zumindest werden die Erkenntnisse dieser hochtalentierten Wissenschafter und Ingenieure heute nicht mehr angewandt. Ist das nicht tragisch?

STANDARD: Welche Rolle nehmen Sie persönlich in dieser Apokalypse des Gestaltens ein?

Lissoni: Die des Hoffenden und Bessermachenden.

STANDARD: Inwiefern?

Lissoni: Ich denke mir etwas dabei, wenn ich einen Strich setze. Man will ja enthusiastisch sein.

STANDARD: Sie machen wenige Striche.

Lissoni: Je weniger, desto besser. Ich bin ein fauler Mensch.

STANDARD: Sie werden oft als Minimalist bezeichnet. Gefällt Ihnen diese Zuschreibung?

Lissoni: Minimalist? Ja, das mag ich. Das höre ich sehr gern.

STANDARD: Was ist Minimalismus für Sie?

Lissoni: Minimalismus ist für mich das absolute Understatement, das kompromisslose Bekenntnis zur Askese. Und eine verdammt schwierige Gratwanderung, denn Minimalismus kann schnell zur Banalität werden.

STANDARD: Woran erkennt man einen typisch minimalistischen Entwurf von Piero Lissoni?

Lissoni: Daran, wenn man den Gegenstand ausprobiert. Nehmen wir einen Stuhl. Ist der Stuhl unbequem, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass das ein echter Lissoni ist, recht groß.

STANDARD: Wir haben soeben noch von Humanismus und vom menschlichen Maßstab gesprochen. Ich bin verwirrt.

Lissoni: Ich orientiere mich selbstverständlich am menschlichen Maßstab, aber bitte dies nicht nur formal und dimensional zu verstehen! Ja, ich entwerfe für den Menschen und orientiere mich sehr stark nach seinen Vorstellungen und Bedürfnissen. Was jedoch den Komfort betrifft: Es ist nahezu unmöglich, einen Tisch, einen Stuhl, einen Fauteuil zu entwerfen, den absolut jeder als bequem erachten wird. Immer wird es Menschen geben, die das vermeintlich perfekte Möbelstück verdammt unbequem finden werden, denn die Menschen sind einfach zu unterschiedlich. Ist das etwa gerecht? Daher habe ich vor einigen Jahren beschlossen, die Ergonomie und den Komfort hintanzustellen und nur noch unbequeme Möbel zu entwerfen – demokratisch unbequeme Möbel für alle.

STANDARD: Wie geht es Ihnen, wenn Sie sich selbst in einen so unbequemen Eigenentwurf reinsetzen?

Lissoni: Keine Ahnung. Normalerweise verwende ich meine Möbel lediglich im Entwurfs- und Entstehungsprozess, wenn Dinge ausprobiert und entschieden werden müssen. Da richtet sich der Fokus auf viele, viele, wirklich viele Dinge, aber nie auf meine eigene Bequemlichkeit, denn die ist kein Garant für irgendwas und somit auch nicht aussagekräftig. Sobald ein Möbel serienreif ist und auf den Markt gebracht wurde, versuche ich nicht so blöd zu sein, mich noch einmal draufzusetzen. Ich denke, das wäre frustrierend.

STANDARD: Louis Sullivan hat einmal gesagt: "Form follows function." Ein Blödsinn?

Lissoni: Nicht für Sullivan! Doch was mich betrifft, kann ich nur sagen: Im Zweifelsfall folgt die Form der Ästhetik. Wenn ich mich zwischen Komfort und Ästhetik entscheiden muss, dann können Sie sicher sein, dass ich Letzterem den Vorzug geben werde. Lieber unbequem als hässlich in der Linie. Schönheit ist für mich das wichtigste Gut überhaupt.

STANDARD: Warum kommen die Kunden zu Ihnen?

Lissoni: Weil Sie es lieben, meine Opfer zu sein.

STANDARD: Würden das Ihre Kunden gern von sich lesen?

Lissoni: Ich denke schon. Das ist kein Geheimnis. Meine Auftraggeber lieben es, mit mir zu diskutieren und zu verhandeln. Es ist ein schöner, wertvoller, intensiver Prozess, der da entsteht und der ein Projekt mit jeder Diskussionsminute besser macht.

STANDARD: Sehen Sie sich selbst eher als Designer oder eher als Architekt?

Lissoni: Ich sehe mich eindeutig als Architekt. Als Architekt, der in seinem Leben zufällig mehr Design als Architektur gemacht hat.

STANDARD: Wie viele unterschiedliche Designprodukte haben Sie bis heute entworfen?

Lissoni: Ich habe keine Ahnung. Ein paar Hundert werden es schon sein.

STANDARD: Angeblich sind es weit über 500 Produkte für mehr als 30 unterschiedliche Hersteller. Wie managt man so viele Stile und Philosophien, ohne jemals durcheinanderzukommen?

Lissoni: Unter den Herstellern, für die ich regelmäßig arbeite, also Alessi, Flos, Kartell, Cassina, Living Divani, Boffi und De Padova, decken viele ein sehr ähnliches Möbel- und Produktspektrum ab. Aber verwechseln? Nicht klar unterscheiden können? Nein, das passiert mir nicht. Die Philosophien und Ausrichtungen dieser Unternehmen sind so klar, dass ich sie beim Entwerfen im Schlaf auseinanderhalten kann.

STANDARD: Umgeben Sie sich zu Hause mit Ihren eigenen Möbeln und Accessoires?

Lissoni: Ich könnte mich niemals zur Gänze mit meinen eigenen Möbeln umgeben. Das würde mich wahnsinnig machen. Die einzigen Sachen, die ich zu Hause habe, sind Prototypen und fehlerhafte Produkte. Ich mag die Fehler, die Schwierigkeiten, das Ungeplante, die Anekdoten, die vielen widersprüchlichen Geschichte, die uns Gegenstände erzählen.

STANDARD: Was ist das Reizvolle daran?

Lissoni: Der Ausnahmezustand. Ein Haus ist ein Einzelstück. Es hat Schrammen und Details, die nicht so toll funktionieren. Es geht mit dem Nutzer eine Beziehung ein. Im Design ist das anders. Da stellen Sie ein Massenprodukt her, das tausend- und millionenfach produziert wird, das für eine große Masse perfekt sein muss. In diesem Umfeld lernt man das Imperfekte, das Fehlerhafte zu lieben. All diese Lieblinge habe ich in meiner Wohnung versammelt.

STANDARD: Wie gehen Sie vor, wenn Sie ein neues Produkt entwerfen? Haben Sie ein Ritual?

Lissoni: Ja, ich habe in der Tat ein Ritual. Das nennt sich Copy-and-Paste.

STANDARD: Sie kopieren?

Lissoni: Ja, ich bin ein fauler Mensch.

STANDARD: Bitte konkreter!

Lissoni: Kopieren ist meines Erachtens der intelligenteste Start jedes einzelnen Projekts. Ich beginne jeden neuen Entwurf, indem ich erst einmal den vorhergehenden kopiere. Der wird ja nicht so schlecht gewesen sein! Und dann fange ich an zu variieren, zu modellieren und mir zu überlegen, was sich am vorhergehenden Projekt als gut und was sich als schlecht erwiesen hat, was theoretisch gleich oder ähnlich bleiben kann, was sich gegenüber dem Vorgänger verändern muss und so weiter. Am Ende kommt etwas komplett Neues, etwas komplett Eigenständiges heraus. Das nenne ich Evolution.

STANDARD: Aktuell hat man das Gefühl, dass die gesamte Designgeschichte des 20. Jahrhunderts kopiert wird. Überall ist Retro. Woran liegt das?

Lissoni: Am Kopieren! Offensichtlich bin ich nicht der Einzige, der das Kopieren als Entwurfsmittel für sich entdeckt hat.

STANDARD: In Italien ist die Entwicklung vom Avantgardismus der Nachkriegszeit zur Nostalgie heutzutage besonders frappant.

Lissoni: Italien und die 1950er-Jahre! Das waren Zeiten! Wissen Sie, nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Menschen begonnen zu träumen. Sie haben sich weit aus dem Fenster gelehnt, sie haben weit in die Zukunft geblickt, sie waren avantgardistisch. Das ist heute anders. Wir haben längst schon die Zukunft erreicht, und nun sehnen wir uns wieder nach der Vergangenheit zurück. Wir sind nostalgisch geworden.

STANDARD: Ist das gut oder schlecht?

Lissoni: Ich sehe das als Ausdruck dafür, dass die Welt sich zu schnell dreht. Die Menschen sehnen sich nach etwas mehr Halt. Das sieht man im Automobildesign, im Möbeldesign, aber auch in ganz alltäglichen Phänomenen wie etwa dem Comfort Food.

STANDARD: Sind Sie auch manchmal nostalgisch?

Lissoni: Nein, nicht besonders. Aber ich glaube an die Kraft der Vergangenheit.

STANDARD: Inwiefern?

Lissoni: Es geht nicht ohne Evolution. Die Menschen glauben, dass La divina commedia in einem einzigen Atemzug entstanden ist. Sie glauben, dass sich Dante Alighieri hingesetzt und einfach dieses grandiose Werk zu Papier gebracht hat. Ma vaffanculo! So ein Blödsinn! Die göttliche Komödie ist eine jahrelange, ja vielleicht sogar jahrzehntelange Evolution.

STANDARD: Er hat "Die göttliche Komödie" am Ende seines Lebens, ein Jahr vor seinem Tod, beendet.

Lissoni: Na sehen Sie!

STANDARD: Macht Ihnen das Angst?

Lissoni: Nicht im geringsten. Ich entwickle mich rascher als andere. Ich denke, mir stehen noch viele Evolutionen bevor.

STANDARD: Welche Evolution wird die nächste sein?

Lissoni: Ich träume davon, in Zukunft weiterhin ein bisschen Kind, ein bisschen blöd, ein bisschen unreif sein zu dürfen. (Wojciech Czaja, RONDO OPEN HAUS, 23.7.2016)