Für Präsidentschaftskandidatin Irmgard Griss ist es "völlig offen", ob das Notstandsgesetz im Asylbereich je angewendet wird. Derzeit sei man von einem Notstand jedenfalls weit entfernt.

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STANDARD: Was ist eine typisch österreichische Einstellung, die Sie sympathisch finden?

Griss: Österreicher haben eine gewisse Gelassenheit. Ein bissl leben und leben lassen. Dass man sagt: Ja, mein Gott, die Lage ist zwar hoffnungslos, aber nicht ernst. Es bringt nichts, die Dinge immer an sich herankommen zu lassen, dann könnte man gar nicht überleben.

STANDARD: Und eine, die Sie unsympathisch finden?

Griss: Sich weniger auf die eigenen Stärken zu konzentrieren als auf die Schwächen des anderen. Jemand hat mir das unterschiedliche Verhalten österreichischer und ausländischer Fans beschrieben: Ausländische Fans feuern die eigene Mannschaft an, österreichische Fans machen die fremde Mannschaft schlecht. Es ist immer dieses: Was kann ich beim andern finden? Nicht zu fragen: Was kann ich besser machen?

STANDARD: Wie stehen Sie zum umstrittenen Notstandsgesetz im Asylbereich?

Griss: Das ist eine Maßnahme, von der völlig offen ist, ob sie jemals umgesetzt wird. Weil dazu Zustände eintreten müssten, von denen wir annehmen können, dass sie nicht eintreten werden. Weil man jetzt auch auf EU-Ebene viel tut, um den ungehinderten Zustrom von Menschen zu verhindern und an Ort und Stelle zu helfen.

STANDARD: Ab wann herrscht Notstand?

Griss: Wenn die Leute nicht mehr unterzubringen, die Asylanträge nicht mehr zu bewältigen sind. Wenn ein Aufruhr droht.

STANDARD: Wäre es ein Notstand, wenn mehr Flüchtlinge in Österreich ankommen, als die Regierung es in der Obergrenze vorsieht?

Griss: Das wäre ja ein Witz, wenn das so ginge. Dann könnte die Regierung durch die Festsetzung einer Obergrenze die faktischen Zustände, die gegeben sein müssen, erst setzen. Nein, es muss eine Notsituation sein.

STANDARD: Wenn es 2016 wieder 90.000 Asylanträge werden, wäre das so ein Zustand?

Griss: Nein. Man muss ja nur die Asylverfahren beschleunigen, in die Strukturen investieren.

STANDARD: Sie sagen, wir sind weit entfernt vom Notstand. Der Verteidigungsminister sagt: Brenner-Grenze zu.

Griss: Mich stört an der öffentlichen Diskussion diese martialische Rhetorik. Das schürt Ängste, bringt vielleicht Stimmen, aber ich glaube den Falschen.

STANDARD: Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ) sagt hingegen: Wenn man das nicht so macht, dann könne man auch gleich FPÖ-Bundesparteiobmann Heinz-Christian Strache den Schlüssel zum Bundeskanzleramt in die Hand geben.

Griss: Ich bin anderer Meinung. Das hilft gerade jenen, die immer schon so geredet haben. Die Leute sagen: Okay, jetzt kommen die Regierungsparteien zwar auch drauf, aber Strache hat das schon früher gesagt.

STANDARD: Was sollte man tun, um das Massensterben im Mittelmeer zu verhindern?

Griss: Man muss Möglichkeiten schaffen, damit Flüchtlinge vor Ort einen Asylantrag stellen können. Auch in Afrika.

STANDARD: Sie würden ein Botschaftsasyl befürworten?

Griss: Natürlich – in welcher Form auch immer, das können auch Hotspots sein. Da kann Frontex noch so viele Boote haben: Es wird nicht gelingen, die Grenze in Libyen abzuriegeln.

STANDARD: Andreas Khol sagt, Österreich sei ein Opfer des Nationalsozialismus. Stimmen Sie zu?

Griss: Die Opfertheorie war nach dem Krieg herrschend und wird seit mehreren Jahren infrage gestellt. Es gibt da bestimmte Formulierungen, die jetzt verwendet werden, dass eben auch viele Österreicher und Österreicherinnen Täter waren. Dieses Hängen an Formulierungen finde ich gewöhnungsbedürftig und nicht richtig. Es ist völlig selbstverständlich, dass viele Österreicherinnen und Österreicher auch schuldig geworden sind. Ich finde nur: Dass es immer eine bestimmte Wortwahl sein muss, die noch akzeptiert wird, ist bezeichnend.

STANDARD: Würden Sie Khols Sager also inhaltlich unterstreichen?

Griss: Schauen Sie, wir haben jetzt wieder das Nazi-Thema, das ja sehr beliebt ist. Wir sind jetzt im Jahr 2016. Ich bin 1946 geboren, ein Jahr nach Kriegsende, ich habe mit der nationalsozialistischen Gesinnung wirklich nichts am Hut. Wir haben heute Probleme zu lösen. Schauen Sie sich die Situation im Mittelmeer an, die Bildungspolitik.

STANDARD: Man sollte einen Schlussstrich ziehen?

Griss: Das sage ich ja nicht. Aber wir sind doch nicht da, um jetzt Geschichte auszulegen. Was heißt einen Schlussstrich ziehen? Aus der Vergangenheit lernen! Wir können doch nicht heute beginnen, Menschen daran zu messen, was sie über diese Zeit konkret sagen. Die NS-Zeit muss dazu führen, dass wir heute wachsam sind, bei Feindbildern, die konstruiert werden. So hat es damals auch begonnen: Ich konzentriere alles auf einen äußeren Feind, er ist zwar in der Gesellschaft, aber für die Volksgenossen ein äußerer Feind, das ist ja das Gefährliche.

STANDARD: Aber es gibt im Wahlkampf einen zu starken Fokus auf das Thema Nationalsozialismus?

Griss: Absolut. Was ist mit den jungen Leuten in der Schule, die nicht fit für den Beruf gemacht werden? Wir haben eine gespaltene Gesellschaft heute – nicht 1946 oder 1986, sondern heute.

STANDARD: Könnten die Vorbehalte gegenüber Flüchtlingen nicht unter anderem ein Erbe der mangelnden Aufarbeitung mit der Tätergeschichte Österreichs sein?

Griss: Das ist doch kein österreichisches Problem, auch kein deutsches, sondern ein europäisches. Die Franzosen haben nicht unsere Vergangenheit, die Briten auch nicht. Dennoch ist es eine Herausforderung, der wir uns alle stellen müssen.

STANDARD: In Interviews haben Sie die schwarz-blaue Regierung verteidigt. Die Justiz ist noch immer mit Korruptionsskandalen aus dieser Zeit beschäftigt. Warum machen Sie das trotzdem?

Griss: Die schwarz-blaue Regierung hat einige wichtige Reformen angestoßen. Die Zwangsarbeiterentschädigung, die Pensionsreform, die Autonomie der Universitäten. Alles, was danach gekommen ist, diese fragwürdigen Privatisierungen, das ist natürlich abzulehnen. Das habe ich nie gerechtfertigt, da müsste ich verrückt sein.

STANDARD: Ihre Parteiungebundenheit ist eine wichtige Säule in Ihrer Kampagne. Aber Sie als Einzelperson sind weder Statuten noch dem Parteiengesetz verpflichtet, bei Parteien gibt es da eine gewisse Normengebundenheit. Es ist überraschend, dass Sie als Juristin diese Beliebigkeit bevorzugen, und nicht die Verbindlichkeit von Rechtsnormen.

Griss: Das ist eine Persönlichkeitswahl. Es tritt keine Partei an, sondern jemand, der dieses Amt anstrebt. Natürlich bin ich an Normen gebunden. Die Verfassung der Republik Österreich, die ganze Rechtsordnung gilt für mich. Nicht nur Parteien sind an Normen gebunden. Der Vorteil einer unabhängigen Kandidatin ist, dass ich niemandem etwas schuldig bin. Das ist doch entscheidend.

STANDARD: Gebunden an das Recht sind alle, die im Land leben. Aber bei Parteien gibt es gewisse Verlässlichkeit. Es gibt ein Parteiprogramm. Ein Individuum kann seine Privatmeinung auch ändern.

Griss: Und ein Parteipolitiker kann das nicht? Ich habe größte Zweifel daran, dass das Parteiprogramm von Politikern umgesetzt wird. Ich werde an meinen Überzeugungen gemessen, für die ich als Person einstehe. Das ist doch ein Unterschied zu jemandem, der sagt, es gibt ein Parteiprogramm, und er hält das ein, weil es ihm vorgeschrieben ist.

STANDARD: Kann es nicht auch ein Nachteil sein, wenn Ihnen der Zugang zu den Ministern fehlt, den etwa ein Kandidat von SPÖ oder ÖVP hat?

Griss: Das glaub ich ganz und gar nicht. Wenn alle per Du sind, kann das Verhaberung sein. Jemand, der nicht verbandelt ist, tut sich viel leichter. Ich kann offen aussprechen, was ich denke, und einfordern, was ich für notwendig halte und muss auf niemanden Rücksicht nehmen.

STANDARD: Warum haben Sie Neos-Parteichef Matthias Strolz in Ihr Unterstützungskomitee aufgenommen, wenn Sie so auf Ihre Parteiunabhängigkeit pochen?

Griss: Da spricht nichts dagegen. Ich bekomme von den Neos weder Geld noch Infrastruktur. Strolz hat als Person Sympathie für meine Kandidatur gezeigt. In meinem Komitee sind auch Leute, die immer schon rot oder schwarz gewählt haben.

STANDARD: Das sind aber keine Parteivorsitzenden.

Griss: Strolz ist auch eine Privatperson. Er hat auch gesagt, dass die Neos keine Wahlempfehlung für mich abgeben. Das Entscheidende ist, ob man Geld bekommt. Ich bin ihm nicht verpflichtet.

STANDARD: Sollten Sie Präsidentin werden, wollen Sie die Hälfte ihres Gehalts spenden. Wem?

Griss: Es soll ein Fonds für Mut und Verantwortung eingerichtet werden. Dieser Fonds soll verschiedene Projekte fördern und Stipendien vergeben für Menschen, die etwas für die Gesellschaft machen wollen. Dabei ist mir Eigenverantwortung ganz wichtig.

STANDARD: Würden Sie sagen, dass es in Österreich an Eigenverantwortung fehlt, dass zu viel vom Staat kommt?

Griss: Bei uns zählt Eigeninitiative nicht so viel. Die Menschen hören noch sehr darauf, was ihnen von oben gesagt wird.

STANDARD: Aber ist es auch eine Frage der Sozialleistungen, sind die Menschen zu verwöhnt?

Griss: Bei den Sozialleistungen müssen wir überlegen, was wir erreichen wollen. Wir sind eine Wohlstandsgesellschaft, und niemand soll in Österreich Not leiden. Es ist daher gut, dass es die Mindestsicherung gibt. Aber natürlich muss ein Ansporn zum Arbeiten bleiben. Es ist weniger die Höhe der Leistung, die dazu führt, dass die Leute nicht arbeiten. Es ist oft der zu geringe Unterschied zu einer bezahlten Arbeit.

STANDARD: Was sollte passieren, um den Anreiz zum Arbeiten zu erhöhen?

Griss: Man hat über den Kollektivvertrag eine Möglichkeit. Der Schlüssel für Niedrigqualifizierte ist aber Bildung.

STANDARD: Es wird immer geringer Qualifizierte geben. Was würden Sie tun, um den Unterschied zwischen Mindestsicherung und Lohn zu vergrößern?

Griss: Wenn die Mindestsicherung so bemessen ist, dass die notwendigen Bedürfnisse abgedeckt werden, dann kann die Lösung nur in einer Anhebung der Löhne liegen. Wenn es mehr Zuwanderer gibt, wird das durch die Konkurrenzsituation schwieriger sein. (INTERVIEW: Lisa Kogelnik, Maria Sterkl, 20.4.2016)