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In Loki's Castle, einer Ansammlung hydrothermaler Quellen in den Tiefen der Nordsee, fanden Forscher seltsame Lebensformen.

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Christa Schleper forscht in der Tiefsee wie an der Donau.

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Longyearbyen – Loki's Castle, benannt nach der vielgestaltigen nordischen Gottheit, liegt in den lichtlosen Tiefen des Nordatlantiks südwestlich von Spitzbergen – keine versunkene Burg, sondern eine erst 2008 entdeckte Ansammlung hydrothermaler Quellen auf einem unterseeischen Vulkanrücken. Trotz der Finsternis und einer umgebenden Wassertemperatur von -0,7 Grad gedeiht hier üppiges Leben. Bleiche Flohkrebse wuseln zwischen ebenso blassen Schnecken herum, Röhrenwürmer ragen vom Boden empor.

Das Getier profitiert vom Inhalt des bis zu 317 Grad heißen Quellwassers. Es ist reich an Methan, Schwefelwasserstoff, Ammoniak und gelösten Mineralien. Die Substanzen dienen spezialisierten Bakterien zur Energiegewinnung. Sie bilden so die Ernährungsbasis für das Ökosystem in Loki's Castle.

Auch im benachbarten Meeresboden sind zahllose Mikroorganismen aktiv. Relativ dicke Sedimentschichten prägen das Umfeld. Die Ablagerungen entstammen zum Teil noch den eiszeitlichen Gletschern, die massig Erosionsmaterial in den Ozean schoben, zum Teil aber auch vulkanischer Aktivität, vor allem dem Ausstoß der heißen Quellen.

Das Ergebnis dieses Wechselspiels ist eine vielfältige, klar abgegrenzte Schichtfolge. Und jede verfügt über eine eigene Mikroflora, erklärt die Biologin Christa Schleper von der Universität Wien. Das Artenspektrum wird von der chemischen Zusammensetzung der einzelnen Schichten bestimmt. Wo viel Schwefel drin ist, dominieren die Schwefelspezialisten; in ammoniakreichen Sedimenten die Ammoniakvertilger und so weiter.

Geochemie im Meeresgrund

Ein internationales Team unter der Leitung von Schleper hat die Zusammenhänge zwischen Artenvielfalt und Geochemie im Meeresgrund bei Loki's Castle vor einigen Jahren untersucht. Die Sedimente enthielten mikrobielle RNA, darin fanden sich die genetischen Fingerabdrücke von 1668 verschiedenen Spezies oder Stämmen (vgl. PNAS, Bd. 109, E2846).

Es handelte sich allerdings nicht nur um Bakterien. Schleper und ihre Kolleginnen wiesen auch zahlreiche Archaea, Angehörige einer urtümlichen, eigenständigen Organismengruppe nach. Deren evolutionäre Wurzeln reichen vermutlich mehr als drei Milliarden Jahre zurück.

Die global am weitesten verbreiteten Vertreter der Archaea sind die Thaumarchaeota. Ob im Meerwasser oder im Erdreich: "Die sind überall", sagt Schleper. Ihr Auftreten im nordatlantischen Sediment ist somit keine Überraschung. Sie zählen zu den häufigsten Mikroorganismen und können offenbar mit den wichtigsten Bakteriengruppen konkurrieren. Von zentraler Bedeutung dürfte dabei ihre Fähigkeit zur Ammoniakverarbeitung sein. Ähnlich wie manche Bakterien setzen Thaumarchaeoten den übelriechenden Stoff unter Sauerstoffeinsatz zu Nitrit um und nutzen die freigesetzte chemische Energie.

In den Bohrkernen von Loki's Castle stießen die Wissenschafterinnen noch auf einen zweiten Archaea-Typus. Dessen Erbgut weist einige überraschende Besonderheiten auf. Zum einen verfügen diese Archaea offenbar über Gene mit Codes zur Herstellung von ESCRT-Proteinen – für Fachleute alte Bekannte: Der ESCRT-Komplex ist in eukaryotischen Organismen – Tiere, Pflanzen, Pilze – zentraler Bestandteil des Zellstoffwechsels. Ohne ihn gäbe es keine Restrukturierung von Membranen. Des Weiteren trägt das Genom der Tiefsee-Archaea fünf Aktin-ähnliche Sequenzen in sich. Aktine sind die Schlüsselkomponenten für den Aufbau zellinterner Strukturen wie das Zytoskelett, welches auch eine Innovation eukaryotischer Lebensformen ist.

Die Entdecker waren begeistert und tauften die seltsamen Geschöpfe auf den Namen Lokiarchaeota. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie 2015 im Fachmagazin Nature (Bd. 521, S. 173). Fazit: Die Lokiarchaeota seien vermutlich eine Schwestergruppe der Eukaryoten und stünden so in einer Verwandtschaftslinie mit Menschen, Bäumen und Pantoffeltierchen. Alle hätten denselben gemeinsamen Vorfahren, weit ab von den Bakterien. Der Lösung des Rätsels um die Entstehung komplexerer Lebewesen wäre man damit einen großen Schritt näher.

Mysteriöse Mikroorganismen

Die Bakterien sollten dennoch eine entscheidende Rolle gespielt haben. Die Ur-Eukaryoten nahmen wohl primitive bakterielle Zellen, genannt Endosymbionten, in sich auf. Das hat der Energieversorgung einen Effizienzvorschub verliehen. Mitochondrien, die heutigen Kraftwerke eukaryotischer Zellen, sind wohl aus Endosymbionten entstanden.

Schleper und ihr Team widmen sich nun der weiteren Erforschung der Archaea – unterstützt durch einen ERC-Preis des Europäischen Forschungsrats. Im Sommer startet außerdem ein vom Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds WWTF gefördertes Projekt. Darüber hinaus ist Schleper Sprecherin eines heuer gestarteten Doktoratskollegs, das vom Wissenschaftsfonds FWF finanziert wird.

Hauptziel von Schlepers Arbeit ist die Entschlüsselung des Stoffwechsels und genetischen Potenzials der mysteriösen Mikroorganismen. Ihre Studienobjekte müssen die Forscherinnen allerdings nicht mehr aus der Tiefsee holen. "Wir haben Lokiarchaeota auch in Donausedimenten gefunden", berichtet Schleper. Am Neusiedler See ebenfalls. Weitere Überraschungen werden wohl folgen. (Kurt de Swaaf, 23.4.2016)