Ein 100-Yuan-Handgelenk ...

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... und A4-Hüften in China.

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Entweder sind Chinesinnen der Zukunft voraus, oder sie hinken ihr hinterher. Vor 50 Jahren wurde eine gewisse Lesley Lawson, besser bekannt unter dem Namen Twiggy, zur britischen Frau des Jahres gewählt. Das magere Modell entfachte eine selbst für unterkühlte Briten hitzige Debatte, ob die Sucht, sich Pfund um Pfund selbst verschwinden zu lassen, zum neuen Standard und Ideal für Schönheit werden dürfe. Eine große Boulevardzeitung krönte Twiggy schließlich zum "The Face of 1966" – zum Gesicht des Jahres 1966. Sie wurde weltberühmt.

Das ist ein halbes Jahrhundert her. Heute gehen Chinas Twiggys online, aber nicht mit ihren Gesichtern. Es geht ihnen um ihre Wespentaille, um das zierlichste Handgelenk, oder um die schlankesten Beine. Schauspielerinnen und Models hatten im März begonnen, in einen bizarren Wettbewerb zu treten, wer die Dünnste im Land ist. Sie stellten Selfies ins Netz, auf denen sie sich etwa mit dem Arm von hinten um die Hüfte an den eigenen Bauchnabel fassten. Sie balancierten Münzen in ihrem Schlüsselbein: Je knochiger, desto mehr passten hinein.

"Ich habe eine A4-Hüfte"

Inzwischen ist der Szenegag zum Online-Laufsteg für den neuen Schlankheitswahn geworden. Die Königin-Disziplinen heißen "A4 Yao" oder "iPhone6-Tui". Gemeint ist im ersteren Fall eine so schmale Taille (yao) zu haben, dass sie sich hinter einem Papierblatt der Größe A4 mit den Idealmaßen 21 x 29,7 verstecken lässt (hochkant, wohlgemerkt). Die chinesische Mikroblog-Debattenseite "Ich habe eine A4-Hüfte" hat inzwischen 210 Millionen Leserzugriffe und registrierte 179.000 Kommentare. Manche nehmen es mit Humor: "Toll mir passt das A4-Format – aber quer."

Bei der zweiten beliebten Übung, dem "iPhone 6-Tui", soll das iPhone die aneinandergelegten Beine (tui) verdecken. Und in der jüngsten Variante des Schlankheitswettbewerbs – dem zierlichen Handgelenk – muss ein gerollter 100-Yuan-Geldschein (15,5 Zentimeter) um das schmale Handgelenk wie eine Manschette passen.

Zum hageren Aussehen gehört ein V-förmig geschnittenes Kinn. Wem es nicht naturgegeben ist, der hilft schönheitsoperativ nach. Schon melden Funktionäre Kritik an, die in dem Modetrend subversives Chaos im Internet wittern. Chinesische Feministinnen mosern ebenfalls, weil sie im Schlankheitswahn vor allem ein Frauenverständnis sehen, das es zum Ziel hat, Männern zu gefallen.

Im Krankenhaus wegen Radikaldiät

Ärzte sorgen sich um die Gesundheit der Beteiligten, obwohl deren Schlachtruf lautet: "Trimm Dich Fit" und nicht etwa: "Hungere Dich fit." Es gibt bereits erste Opfer, denen Joggen oder das Gym zu anstrengend sind. Die Wuhaner Abendzeitung beschrieb jetzt den Fall einer 24-Jährigen, die den Models unbedingt nacheifern wollte. Seit März unterzog sie sich einer Radikaldiät und landete schließlich entkräftet im Krankenhaus.

Dünnsein ist auch in China zum ästhetischen Ideal und zugleich Symbol für Fitness geworden. Dabei ist es noch nicht lange her, dass das Land sich sorgte, wie es seine Menschen überhaupt satt kriegen kann. 55 Millionen Chinesen leben heute noch in abgelegenen Bauern- und Grenzgebieten in absoluter Armut mit einem errechneten Durchschnittseinkommen, das unter der Grenze von 2300 Yuan (300 Euro) liegt – im Jahr.

Bewegungsarme Gesellschaft

Verwöhnte Einzelkinder in den Städten, Arbeitsstress und das allgegenwärtige Fastfood-Überangebot bescherten der Volksrepublik, schneller als alle es erwarteten, eine pfundige und bewegungsarme Gesellschaft. Krankheiten wie Magersucht und Bulimie sind keine unbekannten Phänomene mehr. Schon 2013 meldete die chinesische Jugendzeitung alarmiert, dass Fälle von Essstörungen nach einer Untersuchung des Shanghaier Zentrums für psychische Probleme innerhalb der vergangenen zehn Jahren in Großsstädten um das Drei-bis Fünffache zunahmen.

40 Jahre ist es her, dass sich die Bürger auf der Straße als Grußformel für "Guten Tag" mit "Hast Du schon gegessen?" anredeten. Heute heißt es unter allen, die dem neuen Mode- und Schönheitsideal frönen, ohne ins Schwitzen kommen zu wollen: "Ich hoffe, Du hast nicht gegessen." (Johnny Erling aus Peking, 19.4.2016)