Mit 72 Jahren ist Van der Bellen noch nicht am Ziel: "Bei meinem Alter und Charakter finde ich, dass dieses Amt auf mich zugeschnitten ist. "

Foto: Christian Fischer

STANDARD: Sie sitzen gerade in einem Zug, nicht zum ersten Mal in den vergangenen Wochen. Welches Österreich haben Sie bei Ihren Wahlkampftouren kennengelernt? Ein verzagtes, das an Arbeitslosigkeit und Flüchtlingskrise verzweifelt, oder ein optimistisches, wie Sie es in ihrer Kampagne beschwören?

Alexander Van der Bellen: Eigentlich eher das Zweite. Übertrieben ist der Optimismus nicht, aber gerade die jungen Leute sind gut drauf. Es herrscht ein unglaublicher Überdruss, wenn es um die Politik im Allgemeinen und Rot-Schwarz im Besonderen geht – das schon. Aber von einer depressiven Grundstimmung kann ich nicht berichten, und das ist ein gutes Zeichen. Denn objektiv muss man schon sagen: Einer aus meiner Generation hatte es, als er um die 30 war, deutlich leichter. Es gab Vollbeschäftigung, man konnte sich den Arbeitsplatz aussuchen – ob Österreicher oder Ausländer.

STANDARD: Kommen im Wahlkampf nie Leute auf Sie zu, die sagen, "wir schaffen das nicht"?

Van der Bellen: Ganz selten. In den vier Monaten, die ich unterwegs bin, erinnere ich mich an ein, zwei Personen. Die vielzitierten Zukunftsängste habe ich kaum bemerkt. Möglicherweise sind es aber nicht die ganz Verzagten, die mit mir das Gespräch suchen, und vielleicht ist mir das auch ein bisschen fremd. Ich bin kein grundloser Optimist, aber Österreich hat große und kleine Krisen bewältigt, warum nicht auch diese? Ein Bundespräsident kann die Stimmung schon beeinflussen: Ich bin für das Erhellen zuständig.

STANDARD: Die Regierung sieht durchaus die Gefahr, dass die öffentliche Ordnung ins Wanken geraten könnte. Sie plant einen Notfallsparagrafen, dank dessen sich die Aufnahme von Asylwerbern massiv einschränken lässt, wenn wieder ein großer Andrang droht. Würden Sie als Bundespräsident versuchen, solch ein Gesetz zu verhindern?

Van der Bellen: Im genannten Fall könnte es eine Handhabe geben. Bevor der Bundespräsident ein Gesetz unterschreibt, muss er überprüfen, ob dieses mit der Verfassung vereinbar ist – und ich habe schwerste Zweifel, dass diese Notstandsermächtigung zulässig ist. Es wäre schön, den Verfassungsgerichtshof im Vorhinein zu fragen, aber in Österreich ist das leider nicht möglich. Also würde ich führende Verfassungsexperten konsultieren, von denen ich einige in meinem Personenkomitee sind.

STANDARD: Viele juristische Kapazunder haben sich bereits geäußert – und wenig überraschend sind die Meinungen geteilt. Letztlich wird die Sache wohl politisch entschieden. Wie fällt da Ihr Urteil aus?

Van der Bellen: Politisch halte ich dieses Gesetz für extrem problematisch. Wer entscheidet, ob ein Notstand eingetreten ist? Die Regierung allein? Das bereitet mir großes Unbehagen. Bei solchen Mechanismen müssen die Kriterien extrem genau definiert werden, sonst stehen der Willkür Tür und Tor offen. Ich möchte gar nicht daran denken, wie eine rechtspopulistische Regierung ein solches Gesetz ausnützen könnte.

STANDARD: Die Regierung argumentiert, sie müsse eben vorbeugen.

Van der Bellen: Die Regierung hat sich ihre eigene Panikstimmung aufgebaut und rechtfertigt sich mit Problemen, die es noch gar nicht gibt.

STANDARD: Sie sagen ja selbst, dass Österreich nicht alle Asylwerber aufnehmen könne, verurteilen aber gleichzeitig die Maßnahmen der Regierung, um den Andrang auf ein gewisses Limit zu begrenzen. Wie passt das zusammen?

Van der Bellen: Herrgott noch einmal, wenn alle sagen, es brauche eine europäische Lösung, frage ich mich, was Außenminister Sebastian Kurz dafür getan hat. Hat er die europäischen Hauptstädte bereist, um für diese Lösung zu kämpfen? Nein, hat er nicht. Auch Kanzler Werner Faymann und Präsident Heinz Fischer haben das leider verabsäumt.

STANDARD: Na ja, die Regierung hat schon zu einer fairen Aufteilung auf EU-Ebene aufgerufen.

Van der Bellen: Aber was hat sie konkret gemacht? Zur Balkankonferenz hat sie in einem Anflug von Größenwahn weder Deutschland, den mit Abstand wichtigsten Partner in der EU, eingeladen noch Griechenland. Nein, europäische Politik war das nicht, sondern der Versuch, vollendete Tatsachen auf Kosten anderer zu schaffen. Früher oder später wird Österreich das außenpolitisch büßen.

STANDARD: Dass die europäische Lösung scheitert, liegt aber vor allem am Widerstand anderer EU-Staaten. Ist Österreich als einzelnem Staat etwas anderes übriggeblieben, als selbst Grenzen zu setzen, ehe möglicherweise noch einmal 90.000 Asylwerber kommen?

Van der Bellen: Möglicherweise führt die Donau im nächsten Jahr auch kein Wasser mehr – okay, das war jetzt polemisch. Bleiben wir sachlich: Wenn der Flüchtlingskoordinator und die wichtigsten Hilfsorganisationen sagen, alle Kapazitäten seien beim besten Willen erschöpft, dann werde ich das ernst nehmen. Ich habe den sogenannten Richtwert der Regierung als politische Absichtserklärung verstanden, die Zahl der Asylwerber zu begrenzen. Doch jedem Menschen muss das Recht bleiben, einen Asylantrag zu stellen – ob Asyl gewährt wird, ist offen. Ich muss an dieser Stelle allerdings anmerken: Der Bundespräsident ist kein Wunderwuzzi, der all diese Probleme allein lösen kann. Aber Journalisten fragen manchmal so, als ob er das könnte.

STANDARD: Aber Sie sagen ja auch, der Präsident sei der Erste, der Haltung beweisen müsse. Da fragen wir natürlich nach, worin diese besteht.

Van der Bellen: Die Haltung ist: Ich halte es für eine Schande, wie Europa mit den Flüchtlingen umgeht – aber das trenne ich bewusst von der sogenannten Wirtschaftsmigration. Diese Frage ist bei 500.000 Arbeitslosen in Österreich etwas ganz anderes.

STANDARD: Sollen Asylwerber die Möglichkeit bekommen, sich am Arbeitsmarkt einen Job zu suchen?

Van der Bellen: Ich bin dafür, befürchte aber, dass das vielen nichts bringt, weil sie keinen Job finden werden. Erstens fehlen die Deutschkenntnisse, zweitens werden viele Ausbildungen hierzulande nicht anerkannt – leider teilweise aus berechtigten Gründen. Ich war seinerzeit an der Uni Innsbruck im Fach Volkswirtschaft für die Anerkennung der Abschlüsse aus dem Ausland zuständig. Manche arabische Universitäten haben sich dabei als nicht gleichwertig herausgestellt. Österreich wird über Jahre noch viel Geld in Ausbildung investieren müssen, doch momentan wird sogar Grundlegendes verabsäumt. Ich kenne Flüchtlingsheime, die seit Monaten existieren, und immer noch bietet dort keine öffentliche Stelle einen Deutschkurs an.

STANDARD: Sie zeigen sich recht siegessicher, dabei schneiden Grüne am Wahlabend meist schlechter ab als in den Umfragen zuvor. Warum soll das diesmal anders sein?

Van der Bellen: Was hat das mit den Grünen zu tun?

STANDARD: Grünwähler bekennen sich in Umfragen offenbar lieber als FPÖ-Wähler – und ich wage zu behaupten, dass Sie noch mit dieser Partei assoziiert werden.

Van der Bellen: Das mag schon sein. Aber jetzt – und das klingt hoffentlich nicht arrogant – geht es um eine Persönlichkeitswahl, bei der man sich bereits als Kandidat überparteilich verhalten sollte. Wenn etwa Andreas Khol glaubt, er müsse das ÖVP-Programm auf Punkt und Komma vertreten, dann ist das sein gutes Recht – es ist nur nicht die Aufgabe eines Präsidenten.

STANDARD: Ihr Amtsverständnis stieß ebenfalls schon auf Kritik. Weil Sie einen FPÖ-Kanzler im Fall eines blauen Wahlsieges verhindern wollen, sprach Heinz Fischer von Allmachtsfantasien. Gibt Ihnen das nicht zu denken?

Van der Bellen: Fischer hatte es leichter, er war nie in einer entsprechenden Situation. Ich halte seine Kritik für sehr übertrieben. Mir steht es zu, die Verfassung zu studieren, um die prinzipiellen Möglichkeiten des Amtes auszuloten. Wie das dann in der Praxis aussehen kann, steht auf einem anderen Blatt.

STANDARD: Nicht alles, was möglich ist, muss auch klug sein. Ist es wirklich wünschenswert, dass eine einzelne Person über den Haufen wirft, was der Wähler entscheidet?

Van der Bellen: Dieses Argument verstehe ich überhaupt nicht. Wenn die FPÖ mit 25 Prozent stärkste Partei wird, bleiben immer noch 75 Prozent, die sie nicht gewählt haben. Haben die Wähler dann tatsächlich für eine FPÖ-geführte Regierung votiert?

STANDARD: Wenn die FPÖ im Nationalrat, der Volksvertretung, eine Mehrheit für eine Regierung zusammenbringt, kann man daraus einen Wählerwillen ableiten.

Van der Bellen: Genau genommen wird der Wille der Abgeordneten repräsentiert, den man am Ende vielleicht nicht übergehen kann. Aber dass dem Präsidenten auch dann Spielraum bleibt, hat Thomas Klestil bewiesen, als er 2000 zwei fragwürdige FPÖ-Minister verhinderte. Das war nicht nichts.

STANDARD: Ich wünsche Ihnen natürlich, dass Sie 100 Jahre alt werden. Aber Sie müssen damit rechnen, dass sie einen Großteil Ihres Lebensabends im Licht der Öffentlichkeit verbringen werden. Ist das nicht auch beängstigend?

Van der Bellen: An sich ist das Präsidentenamt mit meinem Anspruch auf Privatsphäre schwer vereinbar, aber es bietet ja auch etwas: die Chance, die Welt noch einmal aus einem anderen Blickwinkel kennenzulernen.

STANDARD: Als Grünen-Chef lautete Ihr Ziel stets, einmal mitzuregieren. Ist der Bundespräsident da nicht ein schwacher Trost?

Van der Bellen: Vor zehn Jahren hätte ich das wohl so empfunden, aber heute sehe ich die Vorteile. Als Präsident muss ich nicht in jedes Detail hineinregieren, sondern bei den großen Fragen dafür sorgen, dass es in die richtige Richtung läuft. Bei meinem Alter und Charakter finde ich, dass dieses Amt auf mich zugeschnitten ist. (Gerald John, 18.4.2016)