Wird die halbe Welt unbewohnbar, flüchten die Menschen, die sie bewohnen, in die andere Welthälfte. Nicht nur Kriege machen ganze Weltteile zu unwirtlichen Gegenden. Hunger, Klimakatastrophen, Wassernot, Armut, aber auch soziale Ungleichheit, Unterdrückung, systematische Gewalt – es gibt viele Faktoren, die Menschen zu Flucht zwingen. Das Schlachtfeld Syrien rückte in den letzten Monaten die Flucht ins Zentrum europäischer Aufmerksamkeit. Menschen, die auf dem Fluchtweg unzählige Anstrengungen, Todesgefahren und Misshandlungen ausgestanden haben, können sich allerdings vor einem anderen Schlachtfeld kaum retten. Es ist die Sprache. "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt", schrieb Ludwig Wittgenstein im Tractatus. Noch nie ist mir dieser Satz so vielschichtig lesbar erschienen wie heute. Sprache steckt derzeit die Grenzen unserer Welt symbolisch ab: wie eine Inschrift auf jenen Zäunen, die seit einigen Monaten die (supra)nationalen Territorialgrenzen Europas schmücken. Sie markieren jene andere Hälfte der Welt, die nach dem Dreißigjährigen Krieg, dem Ersten und Zweiten "Weltkrieg", dem spanischen, jugoslawischen oder irischen Bürgerkrieg noch immer bewohnbar ist und trotz aller internen Plänkelei auch in Sachen Asylpolitik so tut, als hätte sie eine Sprache.

Grenzen der Sprache ...

Nämliche Grenzzäune sind aus einem Material errichtet, das – so will es die zynische Vernunft der Geschichte – Nato-Draht heißt, und das wäre ja Indiz genug für die Schlacht, die in der Sprache stattfindet. Aber es ist ein zufälliges Randphänomen. Flüchtlingskrise, Wertekurse oder Grenzraummanagement sind passendere Beispiele. Victor Klemperer hielt in seinem außergewöhnlichen Buch Lingua Tertii Imperii ("Sprache des Dritten Reichs") fest: "Wenn nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung da."

Dass Sprache nicht nur abbildet, sondern bildet; dass wir mit Sprache die Welt nicht nur beschreiben, sondern sie auch machen; dass der Sprache eine ausführende Funktion innewohnt – dieses Wissen wurde uns in den letzten Jahrzehnten mehrfach bestätigt: erkenntnistheoretisch, sprachphilosophisch und politiktheoretisch. Würden wir demnach die Welt nicht durch diese, sondern andere Wörter "wiedergeben" und die neuen Wörter hartnäckig wiederholen, müsste dies nicht nur zu einer veränderten Sprache, sondern auch zu einer anderen Welt führen.

Diese Annahme, die eben auf der gesicherten Erkenntnis von der Performativität der Sprache fußt, stellt auch die Basis für jene politische Haltung und sprachliche Strategie bereit, welche gemeinhin politische Korrektheit genannt wird. Sie legt uns nahe, dass pejorative Begriffe, vor allem mit Diskriminierung verbundene Gruppenbezeichnungen, durch solche zu ersetzen sind, die von der Gruppe selbst favorisiert werden. Die Wiederholung dieser Eigenbezeichnungen werde, so die Annahme, der betreffenden Gruppe zu einer besseren sozialen Lage verhelfen. Ihre öffentliche Repräsentation würde sich verändern, und dies sei eine Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Anerkennung. Diese Prämisse ist schwer verifizierbar. Sie entpuppt sich gar als Irrtum. Der Geist der politisch korrekten Sprachanwendung sei hier hochgehalten. Aber die formalisierte Korrektheit sitzt drei falschen Glaubenssätzen auf: 1. Jedes inkriminierte Wort könne durch ein neutrales ersetzt werden; 2. für jedes Wort gebe es ein Synonym mit gleichem "Gehalt", gleicher "Assoziation"; 3. Wörter auszuwechseln würde die Bedeutung in die intendierte Richtung verschieben.

Die falsche Grundannahme ist, dass es einzelne Wörter seien, welche die diskriminierenden Effekte zeitigten. Wenn man Roma, Afroösterreicherin und Geflüchteter sagt und schreibe, stehe man auf der korrekten, politisch richtigen Seite. Dem ist aber, fürchte ich, nicht ganz so. Es geht wahrscheinlich weniger um das einzelne Wort als um sein Hinterland; um das Biotop, das die Wörter hervorbringt; auch um den Topf, in dem einzelne Wörter einen besonderen Geschmack erhalten. Es ist weniger die Sprache als vielmehr der Diskurs, der hier als Gift fungiert – der Diskurs, wie ihn Michel Foucault in seiner Bandbreite als ein Gebilde aus Macht und Wissen analysiert hat. Wir haben es mit Sprachbildern zu tun, mit Stehsätzen und Klischees, mit Neologismen und Euphemismen, die erst in einem Diskurs zu ihrer Bedeutung finden.

Es liegt an dem Gesagten, als homöopathisch verabreichtes Arsen zu dienen, als vielmehr an dem besonderen Mund, in dem jedes Wort zum Arsen werden kann. Heute ist es die Sprache der Bürokratie, des nationalstaatlichen Grenzregimes, der postkolonialen Überheblichkeit. Schließlich ist es die Aura einer zum politischen Jargon verkommenen, formalisierten Sprache, die jeden Kontext aufzuheben scheint, indem sie sich selbst als einzigen Kontext aufdrängt – wie einst Theodor W. Adorno formulierte: "Demagogischen Zwecken ist dies Formale günstig. Der des Jargons Kundige braucht nicht zu sagen, was er denkt, nicht einmal recht es zu denken: das nimmt der Jargon ihm ab und entwertet den Gedanken."

Wenn etwa das Menschenrecht Asyl als Gnadenakt dargestellt wird, der Empfang von Flüchtenden hauptsächlich durch ehrenamtlich organisierte Hilfe geschieht, wenn sich Asylsuchende unter schwierigsten Bedingungen selbst über Ländergrenzen durchschlagen und dabei unentwegt ihre Dankbarkeit bezeugen müssen – dann werden sie zu Kuscheltieren degradiert, die man nach Belieben an sich drückt oder wegschiebt. Auf diesem Hintergrund genügt schon das Wort humanitär, um sie zu entmenschlichen.

Wenn Asylsuchende in einem Atemzug mit mühsamer Integration, fehlender Ausbildung oder hoher Arbeitslosigkeitsrate "hier bei uns" erwähnt werden, macht man Opfer zu Tätern. Wenn in staatstragender Pose über Islamismus, über unsere Werte, über berechtigte Ängste der Bevölkerung, über Gefahren der Migration geredet wird, macht man Rassismus auch im Kontext des Asyls salonfähig. Wenn man zwischen Kriegsflüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen unterscheidet, macht man Geflüchtete zu potenziellen Kriminellen. Dazu braucht man dann nur mehr Asylant zu sagen, und schon kommt die Botschaft an. Nicht die Wörter allein, die hier verwendet werden, sind das Problem, sondern der Diskurs, in dem sie als Bestandteile auftauchen. Politische Korrektheit, die sich an Wörtern orientiert, kann solch einer vielschichtigen Formation nicht viel anhaben. Es ist eine diskursive Strategie der Macht, mit der wir es hier zu tun haben – und der nur eine ebenso vielschichtige Gegenstrategie Widerstand leisten kann.

Der springende Punkt ist, dass der Diskurs der Macht sich nicht aus einer Quelle reiner Negation speist. Gut gemeinte Stehsätze wie "Wir brauchen die Migration gegen die Überalterung unserer Gesellschaft" (Subtext: "Sie vermehren sich sowieso wie die Karnickel") haben heute genauso problematische Effekte wie der schnell berühmt gewordene Merkel-Sager "Wir schaffen es!". Oder: "Österreich hat immer gerne und engagiert Flüchtlinge aufgenommen, siehe Ungarn-Flüchtlinge 1956!" Nach diesem heimatliebenden Satz kümmert sich auch niemand mehr um sprachliche, geschweige denn logische Ungereimtheiten: Wir sind ein Flüchtlingsland, aber kein Einwanderungsland.

... Grenzen der Welt

Ich kehre zu Victor Klemperer zurück, der die tiefreichende Funktion der Sprache wie folgt beschrieb: "Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse." Korrekte Sprache kann es nicht geben. Einen Versuch dazu bietet Orwells Roman 1984 mit der fiktiven Zukunftssprache Neusprech. Orwell lässt sie durch einen Sprachwissenschafter erläutern: "Begreifst du denn nicht, dass Neusprech nur ein Ziel hat, nämlich den Gedankenspielraum einzuengen? Zu guter Letzt werden wir Gedankendelikte buchstäblich unmöglich machen, weil es keine Wörter mehr geben wird, um sie auszudrücken." Eine solche korrekte Sprache soll es nicht geben. Wenn aber Sprache Schauplatz politischer Kämpfe ist und wir daran unseren Anteil haben, einfach durch die Tatsache, dass wir reden, selbstverständlich und unbewusst – so kann es auch eine bewusste Teilnahme an diesem Kampf geben: eine diskursive Parteilichkeit. Damit betreten wir das weite Feld der Kritik. (Hakan Gürses, 17.4.2016)