"Unorthodox" erschien 2012 bei Simon & Schuster und war auf Anhieb ein Bestseller mit einer Millionenauflage.

Foto: Mathias Bothar

Deborah Feldman, "Unorthodox". Deutsch: Christian Ruzicska. € 22,60 / 319 Seiten. Secession, Berlin 2016

cover: secession

STANDARD: Wären Sie ohne Bücher dem "Gefängnis des Stillstandes" Ihrer Kindheit je entkommen?

Feldman: Ohne Bücher wäre das unmöglich gewesen. Sie waren der Treibstoff meiner Fantasie.

STANDARD: Es war verboten, englische Bücher zu lesen, ja sogar die englische Sprache selbst wurde in Ihrer Gemeinde, die sich bis heute streng von der Außenwelt abschottet, als unrein betrachtet. Woher nahmen Sie den Mut, Bücher in Ihr Zimmer zu schmuggeln und heimlich in Bibliotheken in anderen Stadtvierteln zu gehen?

Feldman: Ich habe herausgefunden, dass meine Großmutter selbst Bücher in ihrer Lade versteckt hatte. Ich dachte, solange es mein Geheimnis bleibt, ist es okay. Erst habe ich nur an der Bibliothek gelesen, dann eines nach Hause geschmuggelt, nach und nach bin ich mutiger geworden. Das Schreiben war ein noch größeres Wagnis, weil es Zeugnis gibt, gleichsam Beweis war für meine Gedanken. Schreiben ist Macht.

STANDARD: Sie sind bei Ihren Großeltern aufgewachsen. Ihre Mutter floh aus einer arrangierten Ehe mit einem geistig verwirrten Mann, ihrem Vater. Sie schreiben, sie war die erste Frau in Williamsburg, die Auto fahren konnte. War sie ein Vorbild für Sie?

Feldman: Nein, sie war mir kein Vorbild, sie hat ihr Kind zurückgelassen. Sie war ein Schatten. Sie hat uns alle sehr verzweifelt gemacht. Sie hat erst spät in ihrem Leben ihr Glück gefunden.

STANDARD: Haben Sie heute Kontakt zu ihr?

Feldman: Nein.

STANDARD: Sie wurden streng erzogen und beschreiben, wie die Kindererziehung der Tora vorsieht, die Kinder "zu schelten, sie zu beschämen, sie anzuschreien, um sie zu gottesfürchtigen und gesetzestreuen Juden zu machen". Sie haben lange versucht, ein "eydel Mädel", ein sittsames Mädchen, zu sein. Wann ist dieses Projekt gescheitert?

Feldman: Als ich mit 17 zwangsverheiratet worden war, kam ich an den Punkt, an dem ich erkannte, dass Sex Pflicht ist, dass mein Körper nicht mir gehört.

STANDARD: Es gab davor schon einen Vergewaltigungsversuch innerhalb der Familie durch einen Cousin, Sie wurden wie andere Teenager in der Gemeinde unaufgeklärt gelassen, erst beim Heiratsvorbereitungskurs haben Sie erfahren, dass Ihre Scheide nicht nur zum Pinkeln da ist.

Feldman: Ja, ich habe in der Folge mein Ich von meinem Körper abgetrennt, um das zu überleben. Dieses Buch zu schreiben war für mich, wie meinen Körper wieder in Besitz zu nehmen.

STANDARD: Ihr Mann, den Sie bei der Hochzeit zum zweiten Mal gesehen haben, konnte die Ehe lange nicht vollziehen. Sie hatten Panikattacken und wurden für das Nicht-funktionieren der Ehe verantwortlich gemacht.

Feldman: Ich wusste vor meiner Verheiratung nicht, dass Sexualität existiert. Dass hat mir beim Schreiben Sorge gemacht, dass die Leute sagen werden: die übertreibt. Aber es war so. Wir waren abgeschottet, es gab kein TV, kein Radio, keine Zeitungen für uns. Aber ich habe einen Kompromiss gefunden, mit allen Mitteln versucht, fähig zum Geschlechtsverkehr zu werden, und bin schwanger geworden. Ich habe mich selbst verraten, um Ruhe zu haben.

STANDARD: Was würden Sie heute jungen Frauen in solch einer Situation empfehlen?

Feldman: Ich würde diese Frau retten wollen, ihr sagen: Du kannst weg. Aber das ist leichter gesagt als getan. In den USA gibt es zwar Schutzräume für Opfer von häuslicher Gewalt, aber was, wenn der Schutz religiöser Freiheit höher bewertet wird als Frauen- und Kinderrechte? In den USA gibt es die Einstellung, dass der Staat sich nicht einmischt. Es gab auch keine Sozialhilfe für mich.

STANDARD: Sie haben Ihren Mann nicht gleich verlassen, bekamen einen Sohn und zogen aus Williamsburg weg. Sie begannen ein Literaturstudium am Sarah Lawrence College. Wie war zu diesem Zeitpunkt Ihr Verhältnis zur Religion? Sie beschreiben Ihre Situation als Kind so: "Ich brauchte Gott auf meiner Seite; ich habe niemand anderen, der zu mir hält." Später hat sich das verändert: Sie schreiben: "Ich möchte auch eine solche Frau sein, die sich ihr eigens Wunder erkämpft, anstatt auf Gott zu warten, damit er es vollbringe".

Feldman: Ich bin kein religiöser Mensch mehr, aber auch keine Atheistin. Ich habe vage, spirituelle Einstellungen.

STANDARD: Sind Sie Feministin?

Feldman: Ohne Zweifel. Es gibt diese Tendenz, Frauen einzureden, dass sie nicht geliebt werden, wenn sie Feministinnen sind. Aber ich habe nicht meine religiöse Gemeinschaft verlassen, um mir dann sagen zu lassen, was ich denken soll. Ich habe gelernt, dass ich nicht die Zustimmung der ganzen Welt haben muss. Ich bin sehr stolz, Feministin zu sein.

STANDARD: 2009 haben Sie Ihren Mann und Ihr altes Leben verlassen. Sie waren finanziell keineswegs abgesichert. Hätten Sie das ohne Buchvertrag geschafft, den Sie angeboten bekamen, nachdem Sie die sexuellen Probleme in Ihrer Ehe anonym in einem Blog veröffentlicht haben?

Feldman: Nein, ich glaube nicht.

STANDARD: Sie sind durch die USA und auf den Spuren Ihrer Großmutter durch Europa gereist, von deren Geburtsort in Ungarn bis ins ehemalige KZ Bergen-Belsen, das sie überlebt hat. Sie haben darüber 2014 Ihr zweites Buch "Exodus" geschrieben. Worum wird es in Ihrem dritten Buch gehen?

Feldman: Ich arbeite zurzeit an einem Roman, in dem es um die Frage geht, ob man sich je von einem Trauma erholen kann. Ich meine nicht im Sinne einer Therapie, die bewirkt, dass man funktioniert, sondern, ob man wahrhaft seinen Frieden finden kann. Ich weiß die Antwort noch nicht. Es gibt ja diese Bäume, die wachsen erst krumm, aber dann gerade. Haben Sie das Bild? Ich folge in dem Roman drei Biografien, es geht auch um ererbte Traumata.

STANDARD: Die wichtigste Bezugsperson in Ihrer Kindheit war Ihre Großmutter. Wäre die Versöhnung mit Ihrer Großmutter ein möglicher Stoff? Sie konnten bisher nicht mit ihr über den Holocaust sprechen. Ist sie noch am Leben?

Feldman: Ich habe an Exodus recherchiert, um besser zu verstehen, wie sie vor dem Krieg war, und wie sie so eine Extremistin wurde. Ich wollte sie besser verstehen, um mich selbst besser zu verstehen. Sie war ein Flüchtling, ich bin ein Flüchtling. Ich weiß nicht, ob sie noch am Leben ist.

STANDARD: Fahren Sie manchmal nach Williamsburg? Dort schreitet die Gentrifizierung voran. An den großen Festtagen wie Purim ist die Gemeinde aber öffentlich präsent.

Feldman: Als ich zuletzt in Williamsburg war, sah ich das Haus meiner Kindheit verkauft. Ich weiß nicht, wer da jetzt wohnt. Ja, an Purim soll Alkohol getrunken werden nach dem religiösen Gesetz, und zwar so viel, dass man den Unterschied zwischen Gut und Böse nicht mehr erkennt. Aber nur an diesem Tag im Jahr.

STANDARD: Die Gemeinde, der Sie angehörten, glaubt, dass Nichtjuden keine Seele haben, und isoliert sich bestmöglich gegen den Rest der Welt. Dieser Glaube wird in religiösen Kindergärten und Schulen weitergegeben. Ist es nicht falsche Toleranz, das weiter zu gestatten? In Österreich wird über islamische Kindergärten stark diskutiert.

Feldman: Es ist gegen die Werte der demokratischen Welt, Kinder so früh durch eine Ideologie zu prägen. Es verhindert ihren Zugang zu Bildung. Ich denke, es muss eine weltliche Ausbildung geben und als Option eine religiöse am Nachmittag oder Wochenende.

STANDARD: Haben Sie eine Ersatzreligion? Yoga?

Feldman: Klar hatte ich eine Yogaphase (lacht). Aber jetzt bin ich sehr fokussiert auf meine Beziehung zu Menschen. Alles, was ich erreicht habe, konnte ich nur schaffen, weil ich Freundschaften aufgebaut habe. Das ist mein höchstes Ziel geworden: zuverlässige Beziehungen zu Personen aufzubauen, die das auch verdient haben. Sie müssen wissen: Wir hatten auf Jiddisch keine Worte dafür: "Ich liebe dich" zu sagen.

STANDARD: Sie leben heute in Berlin – warum?

Feldman: Bei meinen Recherchen zu Exodus war ich öfters in Berlin. Als ich beim dritten Mal ins Flugzeug stieg, wusste ich, dass ich mich hier mehr zu Hause fühle als dort. Ich bin wurzellos, und hier kann man, anders als in anderen europäischen Städten, auch ohne Wurzeln gut leben.

STANDARD: Sie schreiben am Ende Ihres Buchs über die "Aufregung der Freiheit" – gibt es die noch?

Feldman: Ja, es gibt jeden Tag Momente, da denke ich: Davon konntest du nicht einmal träumen. Ich nehme nichts für selbstverständlich. Ich kann alles, was mir jetzt erlaubt ist, mit meiner Vergangenheit vergleichen. Besonders wenn ich verreise, spüre ich das, aber auch beim Fahrradfahren. Das war verboten. Ich habe es erst mit 25 Jahren gelernt. (Tanja Paar, Album, 16.4.2016)