Regisseurin Tatjana Gürbaca will Werte der Schönheit schaffen.


Foto: Robert Newald

Wien – Opern sind ja gern etwas realitätsfern, aber auf kaum ein Werk trifft die Formulierung "aus der Zeit gefallen" so zu wie auf Capriccio. Während die Alliierten zur Zeit der Münchner Uraufführung im Oktober 1942 an allen Fronten gegen Nazi-Deutschland kämpfen, bittet in Richard Strauss' letzter Oper eine französische Rokoko-Gräfin zur Schokolade in ihren Salon, und man debattiert zu spätromantischen Streicherklängen über das Wesen der Oper. Wie sieht Tatjana Gürbaca das Werk? Ist es mehr als eine eskapistische Sentimentalität, eine Herzensangelegenheit eines altgedienten, verdienten Komponisten?

Genau dieser Gegensatz von Werk und Entstehungszeit sei es gewesen, was ihr Interesse an Capriccio geweckt habe, meint die deutsche Regisseurin. "1942 ist das Jahr von Stalingrad, es ist das Jahr, in dem die Atombombe erfunden wurde. Stefan Zweig, der ursprüngliche Librettist der Oper, hat 1942 Selbstmord begangen. Am Tag nach der Uraufführung ist ein Transport nach Theresienstadt losgefahren, dessen Insassen alle ermordet wurden." Das Streichsextett, mit dem das Werk beginnt, sei als eigenständiges Stück im Salon von Baldur von Schirach, dem Wiener Gauleiter, uraufgeführt worden, in Anwesenheit von Joseph Goebbels.

Nachdem sich Gürbaca mit diesen Dingen beschäftigt hatte, habe sie sich gefragt, ob man sich die Naivität noch leisten könne, Capriccio nur als Diskussion aus einem Rokoko-Salon zu erzählen, in der die Wichtigkeit von Wort und Musik in der Oper erörtert wird. Ihre Antwort: "Ich glaube, das kann man nicht." Was das Stück aber leisten könne: etwas darüber zu erzählen, was Kunst im besten Fall für den Menschen bewirken kann. Nämlich dass Kunst immer wieder an die humanistischen Ideale erinnern und einen Gegenpol zur bestialischen, unzivilisierten Welt bilden soll.

Welche konkreten Spuren hat das Räsonieren über die Entstehungszeit der Oper in Gürbacas Inszenierung hinterlassen? "Im Grunde genommen spielen wir das Stück so, als ob den Protagonisten die Bombe schon auf den Kopf gefallen ist, als ob es sich um lauter Wiedergänger handelt, die nur eine Daseinsberechtigung haben, solange sie sich über Kunst unterhalten", erklärt die 1973 in Berlin geborene Regisseurin. Das sei doch überhaupt der Grund, wieso eine Gesellschaft Theater oder Oper mache: um Geschichten zu erzählen, die noch nicht abgegolten, noch nicht gutgemacht sind. "Die Figuren meiner Capriccio-Inszenierung versuchen auf ewig etwas Schönes zu schaffen, etwas von bleibendem Wert."

Schöngesang am Abgrund

Es würde mehrere Erinnerungsebenen gegeben, verschiedene Zeiten würden ineinanderfließen: die Zeit um 1775, in der Strauss die Geschichte ansiedelt, aber auch die Entstehungszeit der Oper. "Natürlich handeln alle Geschichten, die wir erzählen, auch von uns selber. Wir haben alle immer wieder Momente, in denen wir glauben, am Abgrund zu stehen. Wie jetzt, wo wir zuschauen, wie dieses schöne Europa an eine Grenze gelangt ist und wieder auseinanderzubrechen droht."

Gürbaca hat ab 1993 als eine der ersten aus dem Westen kommenden Studentinnen an der ehemals ostdeutschen Hanns-Eisler-Musikhochschule studiert, bei Ruth Berghaus gelernt und auch bei Peter Konwitschny assistiert. Sind ihr dessen aufrüttelnde Arbeiten Vorbild? "Natürlich. Warum geben wir uns überhaupt Mühe, diese Geschichten zu erzählen? Oper ist ein Akt des Kommunizierens. Und jeder Kommunikation wohnt etwas Politisches inne, weil sie die Grundlage dafür ist, Brücken zu bauen zwischen Menschen und eine bessere Welt zu schaffen."

Strauss hat Capriccio als "Konversationsstück für Musik" bezeichnet, der Fluss der gesungenen Dialoge wird kaum je unterbrochen. Ist hier die ständige Kooperation mit dem Dirigenten besonders wichtig? "Das ist sie, und die Zusammenarbeit mit Bertrand de Billy war von Anfang an sehr eng", bestätigt Gürbaca. Natürlich habe jede Oper ihren eigenen Rhythmus, ein Belcanto-Werk mit langen Konturen sei anders zu inszenieren als eben ein Strauss. "Richard Strauss war für mich lange Zeit ein ferner Planet. Capriccio ist die dritte Strauss-Oper, die ich inszeniere", verrät die bienenfleißige ehemalige Operndirektorin des Staatstheaters Mainz, "und ich bin immer überrascht, wie viel Spaß diese Opern machen und wie viel Spiellust sie beinhalten."

Jetzt ist Capriccio ja auch eine Satire auf den Theaterbetrieb. Sind denn Bühne und Hinterbühne tatsächlich solche Kollisionsräume der künstlerischen Egos wie in dem Stück dargestellt? "Ach, in Wirklichkeit ist es viel, viel schlimmer", lacht Gürbaca. Das Theater sei die große Welt im Kleinen, da finde alles statt, was es sonst auch gebe. Und schließt dennoch freudestrahlend mit der Versicherung: "Aber es ist so beglückend, diese Arbeit machen zu dürfen!" (Stefan Ender, 13.4.2016)