Der richtige Mann am richtigen Platz: Sir Paul Nurse, einer der weltweit führenden Genetiker, leitet das Francis Crick Institute im Herzen Londons, das Spitzenforschung mit Wissenschaftsvermittlung verbindet.

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Das Francis Crick Institute ähnelt zumindest im Inneren einem Chromosom, und seine Bewohner werden durch die Struktur quasi zur Interaktion gezwungen.

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Wissenschaftsvermittlung einmal ganz anders: Der Genetiker Paul Nurse erzählt beim World Science Festival, wie wenig er bis vor zehn Jahren über die wahre Herkunft seiner eigenen Gene wusste. Prädikat: sehr unterhaltsam und sehenswert!

World Science Festival

Wien – Den direkten Vergleich mit dem Buckingham Palace gewinnt das Francis Crick Institute in fast allen Belangen: Mit 93.000 Quadratmeter Fläche verfügt das Superlabor, das nach dem Mitentdecker der DNA-Struktur benannt ist, nicht nur über deutlich mehr Platz als der Sitz der Königsfamilie, das Forschungsinstitut nahe dem St.-Pancras-Bahnhof im Herzen Londons hat auch doppelt so viele Räume (über 1500) und wird deutlich mehr Mitarbeiter beherbergen, nämlich 1400 Forscher.

Einzig bei der Anzahl der Monarchen unterliegt "The Crick", das im Laufe dieses Jahres von den Forschern bezogen und im Herbst eröffnet wird, dem Königspalast mit null zu eins, scherzte kürzlich die britische Wissenschaftszeitschrift Nature. Paul Nurse, seit 2011 Gründungsdirektor dieses rein auf neue Entdeckungen abzielenden Forschungsinstituts, wurde 1999 immerhin zum Ritter geschlagen. Deshalb wird das imposante Glas-Stahl-Gebäude, das gut 800 Millionen Euro gekostet hat, von manchen scherzhaft Sir Paul's Cathedral genannt.

"Francis Crick Institute ist mir lieber", sagt Nurse, der mit seinem Megalabor erst wieder Anfang Februar weltweit in den Schlagzeilen war. Seiner Mitarbeiterin Kathy Niakam wurde damals als erster Forscherin weltweit die Lizenz zum genetischen Verändern menschlicher Embryonen mit der revolutionären Crispr/Cas9-Technik erteilt. Nurse war von der globalen Aufregung etwas überrascht: "Diese Experimente dienen einzig der Forschung und sind mit der Genehmigung klar begrenzt – anders als die Versuche in China."

Drei unter einem Dach

Mit Paul Nurse, der auf Einladung des Forschungsinstituts für Molekulare Pathologie (IMP) vergangene Woche in Wien war, hat Europas neues Superlabor zweifellos den besten Leiter, den es für diese Aufgabe gibt. Das liegt nicht allein daran, dass die ersten Pläne auf ihn zurückgehen, als man nach einer gemeinsamen Lösung für drei veraltete Einrichtungen – darunter das London Research Institute von Cancer Research UK – suchte.

Der heute 67-jährige Genetiker erhielt 2001 den Medizinnobelpreis (für seine grundlegenden Entdeckungen zum Zellzyklus), ist Träger von gut sechzig weiteren wissenschaftlichen Auszeichnungen und war bis vor kurzem Präsident der Royal Society, der ältesten und immer noch wichtigsten Gelehrtengesellschaft der Welt. Außerdem leitete er von 2003 bis 2011 die Rockefeller University in Manhattan, die als eine der erfolgreichsten biomedizinischen Forschungseinrichtungen der Welt gilt.

Alle diese beeindruckenden Meriten halten Nurse nicht davon ab, eine perfekte Verkörperung britischen Unterstatements zu sein. Überaus freundlich, völlig unprätentiös, aber leidenschaftlich in der Sache schildert er im Standard-Gespräch in Wien die zum Teil radikal anmutenden Pläne für sein Institut, das von der Wissenschaftswelt jetzt schon mit Argusaugen beobachtet wird. Denn "The Crick" wird in gewisser Weise selbst ein riesiges Experiment sein.

Ein Bau wie ein Chromosom

Das beginnt mit dem Gebäude, das laut Nurse anders ist als jedes andere Laborgebäude der Welt. "Es ist extrem offen und im Wesentlichen wie ein Chromosom gebaut mit dem Centomer in der Mitte. Die Büros und Labore sind an den Enden des X, aber um zu essen oder zu trinken oder um aufs WC zu gehen, muss man ins Zentrum. Das gesamte Design zielt darauf ab, für möglichst viel Interaktion zu sorgen."

Dem entspricht, dass das Institut alles andere als top-down organisiert ist. "Dadurch würde man viel zu viel Kreativität verlieren." Es wird also große Freiräume auf der Ebene der 120 Gruppenleiter geben. Zwei Drittel davon werden nur sechs bis zwölf Jahre lang am Institut arbeiten und im Idealfall während ihrer kreativsten Lebensphase. "Wir werden etwas jüngere Gruppenleiter rekrutieren als üblich", so Nurse. "Um die 30 ist man womöglich noch etwas grün hinter den Ohren, aber eben auch am innovativsten."

Mit dem beständigen Wechsel des Forscherpersonals ist dafür gesorgt, dass es eine ständige Erneuerung gibt. Aber auch Fakultäten oder Departments, die nur zu Versteinerungen führen würden, wird es nicht geben: "Solche Einteilungen mögen in Universitäten einen Zweck erfüllen, wo es Lehre gibt. Aber in einem reinen Forschungsinstitut ist das nur hinderlich. Außerdem kann man so besser interdisziplinär arbeiten."

"Wir lassen 100 Blumen blühen"

Bei der Anwendung der Erkenntnisse will Nurse mit "The Crick" ebenfalls neue Wege beschreiten: "Wir lassen so wie Vorsitzender Mao 100 Blumen blühen. Aber wir versuchen auch sehr genau darauf zu schauen, was davon umgesetzt werden kann." Nurse setzt darauf, dass es bei der Umsetzung in neuen Medikamenten oder Therapien vor allem auf die beteiligten Personen ankommt und nicht auf Anwälte und Verträge.

So organisierte er vor kurzem eine Art Speed-Dating mit seinen Forschern und jenen von Glaxo-SmithKline und AstraZeneca, zwei der größten britischen Pharmafirmen. "Daraus sind allein zehn Projekte entstanden, ganz ohne Diskussionen über geistige Eigentumsrechte. Wir müssen kein Geld verdienen, wir sind da, um anderen Leuten zu helfen, Geld zu machen. Aber wenn etwas davon funktioniert, dann sind wir natürlich mit Lizenzeinnahmen beteiligt."

Vorbildlich wird Europas Superlabor in Sachen Wissenschaftsvermittlung sein, die Paul Nurse immer schon ein zentrales Anliegen war: "Wir Wissenschafter halten es für zu selbstverständlich, dass unsere Arbeit auch geschätzt wird. Aber wir sind ziemlich teuer und müssen uns die Lizenz zum Forschen erst verdienen. Das bedeutet auch, den Menschen zu zeigen, was Forschung der Gesellschaft bringt."

Viel Raum für Vermittlung

Im offen zugänglichen Erdgeschoß des Francis Crick Institute gibt es deshalb einen Vortragssaal und Ausstellungsräume, die Nurse in Kooperation mit Museen bespielen will. "Dazu gibt es ein Lehrlabor für Kinder von sieben bis elf Jahren, und wir kooperieren mit einem halben Dutzend Schulen." In "The Crick" soll nicht nur biomedizinische Spitzenforschung betrieben werden, es soll auch zur Begegnungszone zwischen Wissenschaft und Bevölkerung werden.

Dass es mitten in London steht, dafür habe er wie ein Verrückter gekämpft, sagt Nurse. "Das Herzblut eines solchen Instituts sind die Leute zwischen 20 und 30, Dissertanten und junge Postdocs. Wollen die an einem Ort wie Birmingham oder 50 Kilometer außerhalb einer Metropole arbeiten? Nein!"

Deshalb versteht es Nurse auch nicht, dass man das IST Austria in Maria Gugging errichtet hat und nicht in Wien. "Ich gehe davon aus, dass diese Entscheidung hinter verschlossenen Türen gefällt wurde", vermutet der Forscher, über den die Times schrieb: "Wenn er spricht, dann hören Politiker und Wissenschafter zu."

Wissenschaft und Demokratie

Wie er das macht? "Vielleicht weil ich eine laute Stimme habe", scherzt Nurse, der sich selbst als "politisches Tier" bezeichnet, der gegen die Unabhängigkeit Schottlands eingetreten ist und nun auch gegen den Brexit Stellung bezieht: "Das wäre ein totales Desaster, nicht zuletzt für die britische Wissenschaft."

Für Nurse ist klar, dass die Wissenschaft immer von der Politik abhängig ist. Deshalb gehe es darum, die Schnittstellen zwischen Politik und Wissenschaft zu verbessern: "Wir sind Teil einer Demokratie und müssen zu ihr beitragen. Dazu gehört nun einmal, dass wir unseren politischen Vertretern zuhören, mit ihnen diskutieren und sie mit Respekt behandeln, damit keine Entscheidungen getroffen werden, die schlecht für die Wissenschaft und für die Gesellschaft sind." (Klaus Taschwer, 15.4.2016)