Szenen vom poetischen Existieren in der Diktatur.

Foto: Odeon / Nick Albert

Wien – Die lyrische Dichtkunst fristet schwierige Zeiten. Wer sich einer Kostbarkeit wie des Werkes von Anna Achmatowa (1889-1966) entsinnt, gehört einer Gemeinschaft von Eingeweihten an. Zum Oberpriester des lokalen Achmatowa-Kults ist nun ausgerechnet der spröde Erwin Piplits avanciert. Die neue Produktion seines Serapions Ensembles ist ein berückendes Kryptogramm geworden, eine Reise ins Herz der russischen Moderne. Der Titel: ... am Abend der Avantgarde.

Für diesen setzt es in der Zyklopenhalle des Odeons Applaus ohne Ende. Piplits hat ein Spätwerk der Achmatowa aufgestöbert. Enuma Elisch ist eine Szenen- und Zettelarbeit, vermutlich unvollständig und von der Autorin einer fortwährenden Verrätselung unterworfen. Alexander Nitzberg hat alles in kostbares Deutsch übertragen.

Lyrisches für Eingeweihte

Piplits und Nitzberg, so viel lässt sich sagen, wenden sich vor allem an Eingeweihte. Es schadet bestimmt nicht, von Achmatowas Überlebenswillen gehört zu haben, mit dem sie, von Schdanow und Konsorten verunglimpft, dem Sowjetterror widerstand. Vor allem aber verwandelte sie, etwa in dem Poem ohne Held, Zeitgeschichte in private Mythologie. Ihr lyrisches Sprechen ist mehr noch leicht- als versfüßig. In ihm kommen Doppelgängerinnen und Herzensbrüder zu Wort.

Piplits und seine Theatertruppe machen nahezu alles richtig. Zwischen Spiegeln treten die Figuren eines verschlüsselten Seelentheaters hervor. Eine von drei Dichterinnen hat zu Beginn die Schwefelhölzer der Erkenntnis entzündet. Ein "Mann ohne Gesicht" begleitet ein Geschehen, das – für Serapions-Verhältnisse – erstaunlich wortlastig ist. Ein Ball der Masken endet in Selbstmord und Kriegslärm. Die dritte "Achmatowa" deklamiert in klirrendem Russisch. Aus der Zukunft wird die Begegnung mit einem männlichen Gegenüber beschworen. Und über allem flirrt die raffinierte Achmatowa-/Nitzberg-Sprache, die vom gewöhnlichen Konversationston bis zur dunklen Weissagung alle Register gebraucht.

Verzicht auf Ausstattungsseligkeit

Vorzüglich bekommt dem Serapionstheater der Verzicht auf die Ausstattungsseligkeit früherer Exkursionen in die Ethnografie. Ein bisschen "mondener" Dekorationskitsch sei verziehen. Gutheißen darf man das störrische Bedenken und Verwenden poetischer Reizmittel als Instrumente der Erkenntnis. Die Schlussfeier der Dichtung als Flaschenpost spielt in der Holzklasse eines Eisenbahnwagons (Bühne: Piplits, Mirjam Salzer). Das kommentierende Wort ist aber ein Urwienerisches. Piplits gibt zusammen mit einem Kollegen den Shakespeare'schen Totengräber, verkleidet als Bühnenarbeiter, der den Vorhang zieht.

Auch das ist eine reizende Vorstellung: Die Weltpoesie kämpft in der Diktatur um ihr nacktes Überleben. Und am Schluss ist die Tragödie des Totalitarismus bloß der Trauminhalt zweier ganz gewöhnlicher Wiener "Hackler". Chapeau. (Ronald Pohl, 10.4.2016)