Keine Delikatesse – die Zukunft wird laut Schauspielhaus Wien nicht sehr g'schmackig. Und mehr interaktiv den aktiv.

Foto: Susanne Einzenberger

Wien – Einen Schritt zurück tritt man für gewöhnlich, um Überblick zu gewinnen. Im Schauspielhaus Wien macht man dazu ein paar mehr Schritte. Zum einen zwei Generationen voraus und gleichzeitig retour ins Heute, zum anderen um den Block. Dort liegen die Schauplätze von Strotter. Jeder erzählt seine eigene kleine Geschichte, sie alle zusammen von einer großen sozialen und ökologischen Dystopie.

Schauspielhaus Wien NEU

Die lästige Fliege im heruntergekommenen Genusslokal ist da noch ein kleiner Makel. In Simmering gibt es Wirbelstürme, das Marchfeld ist zur Wüste geworden, wem es möglich war, der hat die Erde per Rakete verlassen. Der Rest liegt mit schweren Helmen am Boden und lässt sich von einer freundlichen Computerstimme (Sophia Löffler) eine bessere Realität virtuell ins Hirn pflanzen. Dieselbige leitet das Publikum per Kopfhörer durch die Straßen, erzählt vom ehemals humanen Zusammenleben in der quantifizierbaren Sprache, nur in der den Bits und Bytes dieses zugänglich ist. Der Mensch heißt dabei "Nutzer". Das klingt für heutige Menschenohren ebenso nicht mehr ganz unbekannt wie beunruhigend.

Die entscheidenden Jahre verwarten

Und in einem gleichen wir dem postapokalyptischen Menschen im Bunker schon jetzt: wir warten. Während diese "10er-Jahre", in denen man das Ruder noch herumreißen hätte können, vergehen. Wie wir es so weit kommen lassen konnten? Das wird die Nachwelt vielleicht einmal aus unserem Müll rekonstruieren können. Aus dem, was wir übrig lassen, damit die nächste Generation sich daraus neu zusammenflicken kann. Soweit die Denkgrundlage der Uraufführung von Thomas Köck (Text) und Tomas Schweigen (Regie), die sich trotz aller Fremdheit auf einen urwienerischen Umstand bezieht: das Strottern.

Als Strotter bezeichnet(e) der hiesige Volksmund einen, der in Abfällen nach Verwertbarem suchte. In seiner zeitgenössischen Bedeutung überträgt sich dieses Stöbern auf eine psychische Lebensgrundlage: auf Fundstücke aus der Kulturgeschichte. Wir begegnen flinken Fußes lauter solchen Strottern.

Folgen oder verweigern?

Sie tanzen in Hinterhöfen dem Ende entgegen, plakatieren Hassparolen. Darein mischt sich dank innereuropäischer Migrationsbewegungen in einer mittlerweile zerbrochenen EU auch eine Liebesgeschichte. Viele Fragen tut der Abend zudem ob der zuweilen abgedrehten, stark körperlichen Inszenierung auf, in der das Publikum als Mitmacher steckt. Etwa jene, welche Rolle man lieber einnehmen sollte: Die des brav rezipierenden und der Computerstimme folgenden Publikums oder doch die – gelobte – des Anweisungsverweigerers.

Untergangskinder möchte man das Wind und Wetter trotzende Ensemble aus Jesse Inman, Steffen Link, Vassilissa Reznikoff und Sebastian Schindegger nennen. Es entwirft düstere, aber gar nicht so abwegige Aussichten. Derer mag es zwar schon einige geben, aber noch keine war so nah an Wien dran. (Michael Wurmitzer, 10.4.2016)