Syrien-Expertin Le Caisne: "Der IS bezieht seine Kraft aus der Unterdrückung."

Foto: Julien Falsimagne

Garance Le Caisne, "Codename Caesar". € 17,95 / 249 Seiten. C. H. Beck 2016

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STANDARD: "Caesar", so sein Deckname, hat als Fotograf der syrischen Militärpolizei die Verbrechen Assads an seinem Volk dokumentiert. Er schmuggelte die Fotos außer Landes. Ihre Echtheit wurde bestätigt, und sie wurden der Weltöffentlichkeit vorgelegt. Sie haben Caesar, der 2013 aus Syrien floh und sich versteckt hält, getroffen. Wie geht es ihm?

Le Caisne: Caesar ist enttäuscht von der Tatenlosigkeit der internationalen Gemeinschaft. Er fragt sich, wozu er sein Leben und das seiner Angehörigen all den Gefahren ausgesetzt hat. Doch es stellte sich für ihn keine Wahl. Vielleicht hatte er eine zu naive Vorstellung von Weltpolitik. Er dachte, wenn er diese Fotos vorlegt, würde Assad sofort gestürzt werden. Tatsächlich ist es auch im Westen befremdlich, warum die Täter nicht strafrechtlich belangt werden. Caesar musste zeitweilig fürchten, dass die westlichen Regierungen wieder Kontakt mit Assad aufnehmen, weil sie den Kampf gegen die Terrororganisation "Isalmischer Staat" als wichtiger ansehen als die Verbrechen des Regimes.

STANDARD: Die syrische Schriftstellerin Samar Yazbek bezeichnete es als Heuchelei, wenn der Westen davon spreche, den IS zu bekämpfen. Das von Assad an seinem Volk verübte Blutvergießen sei ein Versagen des Gewissens der Welt ...

Le Caisne: Das ist ein großes Versagen der Menschlichkeit. Was in Syrien geschieht, betrifft die ganze Welt. Unser Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian erklärte nach den Attentaten vom 13. November in Paris, dass der IS unser Problem sei und nicht das syrische Regime. Denn der IS agiere auf unserem Boden. Das ist eine unhaltbare Einstellung. Ob ich Syrerin bin oder Französin, menschliche Werte gelten für alle. Der IS bezieht seine Kraft aus der Unterdrückung durch Diktatur. Er entstand 2003 nach der amerikanischen Invasion im Irak und nach der Ausgrenzung der Sunniten durch das irakische Regime. Genauso ist es in Syrien. Aus der Unterdrückung eines Teils der Bevölkerung bezieht der IS seine Kraft. Es trifft auch nicht zu, dass der IS uns auf unserem Boden bedroht. Der IS bedroht alle. Bei den Anschlägen in Paris starben 130 Menschen. Das ist enorm. Man sollte darüber aber nicht vergessen, dass es 260.000 Tote in Syrien gab, Opfer des Regimes und des IS.

STANDARD: Wie ist es zu erklären, dass die internationale Gemeinschaft vor den Geschehnissen in Syrien die Augen verschließt?

Le Caisne: Es ist sogar noch schlimmer. Die internationale Gemeinschaft weiß, dass diese Verbrechen stattfinden. Die Uno hat die Verbrechen anerkannt. Vor einigen Wochen gab sie einen Bericht heraus. Sie bestätigte unabhängig der Fotos von Caesar die Folterungen und Morde. Aber die internationale Gemeinschaft kümmert sich nicht darum. Es ist für sie zu kompliziert einzugreifen. Syrien ist ein souveräner Staat, Assad ein gewählter Präsident. Auch wenn er nicht demokratisch gewählt wurde. Hinzu kommt, dass er und seine Frau uns gleichen. Seine Frau ist schön, trägt keinen Schleier. Die beiden treten "zivilisiert" auf. Da fällt es viel schwerer als bei IS-Mitgliedern, die ihre Verbrechen in sozialen Netzwerken zur Schau stellen, die Barbarei zu sehen.

STANDARD: Sie berichten, dass Barack Obama nicht bereit war, Caesar zu empfangen. Dabei machen Nahostexperten ihn mitverantwortlich für das Geschehen in Syrien. Haben Sie eine Erklärung?

Le Caisne: Ich würde nicht sagen, dass Obama mitverantwortlich ist. Die Verantwortung trägt das syrische Regime. Aber Obama beging einen Fehler, als er im August 2013 nach dem Giftgasangriff nicht intervenierte. Er war gewählt worden, um den US-Interventionen im Nahen Osten ein Ende zu setzen. Aber es hatte fatale Folgen. Bereits im September erfolgte die erste Rekrutierungswelle des IS. Die Organisation trat als einziger Verteidiger der Muslime auf. Niemand auf der Welt sei bereit, den Muslimen zu helfen, die vom Regime angegriffen würden. Dadurch gelang es, viele Anhänger zu gewinnen.

STANDARD: Putin unterstützt Assad. Welche Interessen hat Russland?

Le Caisne: Russland hat einen Marinestützpunkt in Tartus. Darum hat es militärisch eingegriffen. Es benötigt ihn, weil es von seinem Territorium aus nicht ins Mittelmeer gelangen kann. Außerdem war Syrien lange ein Hauptabnehmer russischer Rüstungsgüter. Und schließlich ist Syrien für Russland wichtig, um der Welt zu zeigen, dass es eine Supermacht ist und die anderen Staaten es bei Entscheidungen nicht außen vor lassen können. Russland steckt in einer Wirtschaftskrise, und Syrien dient dazu, von inneren Problemen abzulenken.

STANDARD: Wie beurteilen Sie das Argument, ein Sturz Assads berge die Gefahr, dass Syrien auseinanderbreche und wir vor einer Situation stünden wie in Libyen?

Le Caisne: Dieses Argument kam nach der Revolution von 2011 auf. Es ist ein Versuch, Assad zu retten. Aber es ist kein zulässiges Argument. Syrien ist längst auseinandergebrochen. Ein Teil des Landes wird von Vertretern des Regimes kontrolliert, ein Teil von Islamisten, ein Teil von Kurden und ein kleiner Teil von gemäßigten bewaffneten Rebellen. Die verschwinden zunehmend. Sie sind im Visier von IS und Regime.

STANDARD: "Die Welt warf die wirklichen Revolutionäre und die Jihadisten in einen Topf", zitieren Sie ein Gründungsmitglied der Syrischen Nationalbewegung. Wollte Assad das erreichen?

Le Caisne: Ja, Assad wollte, dass die Demonstranten für Terroristen gehalten werden. Darum befreite er 2011 Jihadisten aus dem Gefängnis. Syrer, die gegen die amerikanische Armee im Irak gekämpft hatten, wurden bei ihrer Rückkehr nach Syrien von Assad ins Gefängnis geworfen. Als die Revolution ausbrach, ließ Assad sie frei. Sie füllten die Reihen der Nusra-Front auf. Diese Gruppe ist mit Al-Kaida verbunden und sympathisiert auch mit dem IS. Für Assad war das ein Weg zu zeigen, dass die Alternative zu ihm nur das Chaos sein kann. Damit erhob er die Forderung, ihn zu unterstützen und nicht die Revolutionäre. In gewissen Momenten gelang ihm diese Politik. Da kam es in der öffentlichen Meinung zu einer Konfusion zwischen den Revolutionären und den Terroristen.

STANDARD: Der aus Syrien stammende Schriftsteller Rafik Schami äußerte den Verdacht, dass im Westen kein Interesse an einem demokratischen Syrien bestehe ...

Le Caisne: So weit würde ich nicht gehen. Was gewisse Länder im Westen nicht mögen, sind Veränderungen. Wenn sie mit arabischen Regimen militärische Kooperationen oder wirtschaftliche Vereinbarungen haben, fürchten sie bei einem Regimewechsel um ihre Geschäfte. Frankreich hat Waffengeschäfte laufen mit Abd al-Fatah as-Sisi, der in Ägypten kein demokratisches Regime führt. Man verkauft auch Waffen an Saudi-Arabien, ein Land, das Enthauptungen noch häufiger durchführt als der IS. Aber dazu äußert man sich nicht, weil man seine Geschäfte nicht gefährden möchte. Es steckt also eher wirtschaftlicher Zynismus dahinter.

STANDARD: Mittlerweile ist Syrien so zerstört, dass man sich nicht vorstellen kann, wie das Land wieder bewohnt werden soll. Sie haben Syrien oft bereist. Ihr Eindruck?

Le Caisne: Wenn man als Journalist das Land bereist, kommt man nur in gewisse Gebiete. Darauf muss man achten bei den Fotos, die man aus Syrien gezeigt bekommt. Die schrecklichen Bilder aus Homs etwa, die in der zweiten Märzwoche kursierten, zeigten nur die zerstörten Stadtteile. Ganz Homs ist nicht zerstört. Aber selbst wenn Syrien in Ruinen liegt, kann es wieder aufgebaut werden. Weitaus schlimmer ist der Wille des Regimes, die konfessionelle Mischung zu zerstören. Etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt nicht mehr in ihren Häusern. Millionen Syrer befinden sich auf der Flucht. Drei bis vier Millionen haben das Land verlassen. Noch einmal so viele sind innerhalb des Landes geflohen. Häuser kann man aufbauen. Aber wenn die Beziehungen innerhalb der Familien, zwischen Nachbarn oder den Bewohnern eines Viertels zerstört sind, weiß ich nicht, was noch Hoffnung geben kann.

STANDARD: Wie beurteilen Sie das Verhalten der europäischen Länder gegenüber Flüchtlingen, gegen die man Zäune errichtet?

Le Caisne: Das ist beunruhigend, nicht nur für die Syrer. Es wirft die Frage auf, wofür Europa heute steht. Wir wollten einmal ein soziales, menschliches Europa bauen. Das Gegenteil ist es jetzt geworden. Zentraleuropa schlittert in eine Identitätskrise. Das kann für die Zukunft sehr verhängnisvoll sein. Diese Flüchtlinge sind auch eine Prüfung für Europa. (Ruth Renée Reif, Album, 10.4.2016)