Wenn sie aufstünde, wäre Wilhelm Lehmbrucks "Kniende" (1911) überlebensgroß.

Foto: Bernd Kirtz

Wien – Wie schön sind oft die Dinge, wenn sie am Kippen sind. Etwa in Wilhelm Lehmbrucks Skulptur Die Kniende. Keiner vermöchte zu sagen, ob die in Bronze Gegossene, vibrierend vor innerem Ausdruck, in Ruhe verharren oder sich im nächsten Augenblick aufrichten möchte. Der Eindruck variiert mit dem Blickwinkel. Stünde sie auf, offenbarte sie jedenfalls übermenschliche Körpergröße.

Fast könne man sie als "Architektur" statt als Skulptur bezeichnen, sagt Hans-Peter Wipplinger, Kurator jener umfassenden Retrospektive zu Wilhelm Lehmbruck (1881-1919), die das Leopold-Museum aktuell zeigt. Angespielt ist damit auf den Umstand, dass hier auf bahnbrechende Art in den Raum hinausgedacht, dieser zur Bühne gemacht wird.

"Vorwort zum Expressionismus in der Skulptur"

Die Kniende, geschaffen 1911, bedeutete den Durchbruch für Lehmbruck. Als "Vorwort zum Expressionismus in der Skulptur" bezeichnete der Schriftsteller Theodor Däubler das Meisterwerk, das 1913 auch auf der einflussreichen Armory Show in New York gezeigt wurde, nebst Arbeiten von Constantin Brancusi und Alexander Archipenko.

Es ist die Nähe zu grundsätzlichen Fragen des Menschseins, die Lehmbrucks Arbeiten zeitlos faszinierend macht. Sie sind Ausdruck der Suche nach einem neuen Menschenbild, das aus der Rückbesinnung auf das Archaische folgen sollte: Wie ein "Urmenschenpaar" nehmen Die große Sinnende (1913) und Der emporsteigende Jüngling (1913/14) Betrachter im Leopold-Museum in ihre Mitte.

Die Nacktheit dieses Duos, das würdevoll ein Widerspiel von Geist und Körper verbildlicht, vermittelt Optimismus. Anders als eine Skulptur von 1915 namens Der Gestürzte. Nicht besonnen auf das Wesentliche zurückgeschritten ist diese Männerfigur, sondern harsch zurückgeworfen worden auf sich selbst, den bloßen Körper. Die eindrucksvolle Skulptur sorgte dabei für Anstoß: Konzipiert als Kriegerdenkmal, widersprach sie doch vehement der Prämisse, Soldaten in Montur und günstigstenfalls siegreich darzustellen.

Unerfüllte Liebe im Exil

Die Kriegsgegnerschaft und der Humanismus Lehmbrucks, der ihm posthum auch die Verehrung Joseph Beuys' eintrug, prägt auch die restliche, chronologisch angelegte Schau, die vor allem auch das malerische und zeichnerische Werk einbezieht. Sie beginnt mit der Studienzeit in Düsseldorf, wo sich Lehmbruck für die Mühsal des Arbeiterlebens interessierte, führt aber auch in die Abgründe des Ersten Weltkriegs.

Von Lehmbrucks Begegnungen mit realen, versehrten Körpern, die er als Lazarettsanitäter erlebte, zeugt eine Schaffensphase der Deformation und des Fragmentierten. Im Leopold-Museum werden hier Bezüge zu Berlinde De Bruyckere gezogen, aber natürlich auch zu Egon Schiele, wie die Schau überhaupt viele aufschlussreiche Referenzen aufbietet. Vertreten ist so auch Edvard Munch: In jenem Raum nämlich, der von einer unerfüllten Liebe Lehmbrucks erzählt, die er im Züricher Exil erfuhr, bevor er sich 1919, erst 38-jährig, das Leben nahm. (Roman Gerold, 6.4.2016)