Die Künstlerin Berlinde De Bruyckere und der Versuch, aus der Hinfälligkeit des Körpers Zuversicht zu schöpfen.

Foto: Robert Newald

Wien – Blickt man auf die Leiber, die Berlinde De Bruyckere auf hölzerne Sockel bettet und die an den Gekreuzigten erinnern, auf Äste, die von dünnen Seilen gehalten werden, wird man stumm. Die wächsernen Skulpturen der flämischen Bildhauerin sind verletzt, zeigen den menschlichen Körper in seiner rohen Schönheit, verhandeln existenzielle Themen wie Tod und Schmerz, aber auch Liebe und Eros, der sich in schwebenden Figuren offenbart. Im Leopold-Museum werden nun Skulpturen und Zeichnungen der Künstlerin aus den letzten 20 Jahren präsentiert.

STANDARD: Dualität, etwa jene von Schmerz und Heilung, ist ein starkes Motiv Ihrer Arbeit. Diese Dualität findet sich etwa auch im christlichen Osterfest – im Tod des Gekreuzigten und seiner Auferstehung. Ist dieses Motiv bei Ihnen auch mit Religiösem verbunden?

Bruyckere: Die Alten Meister, die zu diesem Thema gearbeitet haben, sind eine große Inspiration für mich. Mich interessiert jedoch mehr der Moment, wo Leiden und Heilen zur gleichen Zeit erlebt werden. Die Pieta ist dafür ein gutes Beispiel, sie vereint beide Gefühlslagen in einer Haltung.

STANDARD: Worin besteht der heilende Moment, der Trost, den man im Leiden findet?

Bruyckere: Der heilende Moment ist der, zu bemerken, dass der Tod nicht das Ende ist. Meine Arbeit hat immer auch Hoffnung thematisiert. Es ist der Moment, in dem jemand sich um dich kümmert. Übertragen auf meine Kunst bin ich es, der sich kümmert. Die Figur der "Pieta" existiert wegen dem Augenblick, in dem wir das Wachs aus der Gussform nahmen und auf Kissen betteten. Das Gefühl, das ich vermitteln will, ist, dass die zweite Figur der Pieta sich in diese Kissen transformiert hat.

STANDARD: Das Kissen besitzt also tiefere Bedeutung?

Bruyckere: Ich verwende Material oft so, als könnte es heilen. Wegen der Schönheit, die ihm innewohnt. Wenn ich Decken verwende, ist es wegen ihrer Bedeutung, nicht wegen ihrer textilen Qualitäten. Jeder kennt Decken: Wir verwenden sie am Bett, decken unsere Möbel damit zu, wenn wir umziehen. Es ist ein Objekt, das man nicht wegwirft, man hebt es auf, weil so viele Erinnerungen dranhängen. Die erste Arbeit, die ich mit Decken gemacht habe, waren damit vollgepackte große Container. Sie waren wie Trucks auf dem Weg, um Menschen zu helfen. Aber sie standen auch in Antwerpen auf dem Hof des Museums herum – ohne Räder. Da gab es auch eine Form von Dualität: Es gab einerseits eine riesige Menge Material, mit dem man Leute schützen kann, andererseits sind sie am Hof des Museums nur noch Objekte, die wir betrachten, aber nicht mehr benutzen können. Meine Materialien sind immer mit Geschichten aufgeladen, so ist einer meiner Sockel etwa ein Schränkchen in dem meine Tante ihre Nähsachen aufbewahrte. Für den Betrachter mag es nicht so wichtig sein, zu wissen, woher die Dinge sind, aber für mich ist es wichtig. Ich sammle die Dinge, ich habe ein riesiges Depot mit Vitrinen, Tischen, Sockeln und anderen Objekten in die ich mich verliebt habe.

STANDARD: Was macht Objekte aus, in die sie sich verlieben?

Bruyckere: Es sind Dinge, bei denen ich nicht verstehe, warum sie so sind wie sie sind. Manchen Tischen fehlt ein Bein, manche Oberflächen haben Kratzer, deren Ursache ich nicht kenne. Es ist die Neugierde in die Vergangenheit der Dinge, die mich verliebt macht.

STANDARD: Die Spuren des Lebens?

Bruyckere: Ja.

STANDARD: Die "Pieta" erinnert an eine andere Arbeit mit dem Titel "The Pillow": ein fragmentierter Körper, der von einem Kissen verschluckt zu werden scheint. Ihre Fragmentierungen sind aber etwas, wovor man sich nicht fürchten muss.

Bruyckere: Wir sind aus Fragmenten, aus verschiedenen Ansichten gemacht. Alles was wir tun, ob wir ein Buch lesen oder einen Film sehen, macht uns zu dem, was wir sind. Meine Arbeit ist ein gutes Beispiel, um das zu zeigen. Der Sockel ist obendrein viel zu fragil, um einen echten Körper zu tragen, das signalisiert dir, dass es keine reale Situation ist, sondern eine Skulptur. Der Anfangspunkt der "Pieta" ist real: Es beginnt mit dem Abguss eines echten Körpers, einem gegenwärtigen Thema – denken wir an all die Soldaten im Krieg, die jemand brauchen, der sich um sie kümmert. Ich habe das Gefühl, dass wir in der heutigen Zeit so auf uns selbst zurückgeworfen sind. Wir lesen all diese Textnachrichten, Twitter, Facebook und der reale Kontakt zwischen uns verschwindet. Niemand ist mehr fähig, mit jemanden anderem sprechen. Es ist so als würden wir unsere Sprache verlieren, dabei sind wir heute so wie nie zuvor fähig, mit der ganzen Welt in Kontakt zu treten.

STANDARD: Etwas oder jemanden zu umsorgen, der verwundet ist oder stirbt, ist ein wiederkehrendes Motiv in Ihrer Arbeit. Fehlt unserer Gesellschaft Mitgefühl und Nächstenliebe?

Bruyckere: Ich denke, es gibt immer noch eine Menge Menschen, die sich um andere kümmern. Die "Cripplewood"-Arbeit von Venedig zeigt etwa einen Baum, der am Boden liegt – komplett unnatürlich, denn Bäume sollten beständig, ja stärker als Menschen sein und viele Generationen überdauern. Seine Entwurzelung zeigt ihn verletzlich, er braucht eine Operation, jemanden, der sich um ihn kümmert. Als meine Assistenten all die Kissen um und unter die Zweige des Baumes legten und sich um den verletzten Körper kümmerten, wurden sie für mich zu Krankenschwestern eines riesigen Giganten. Ich hoffe mit meiner Arbeit eine Sprache zu öffnen. Etwa, wenn der Tod ein Tabu ist, mit meiner Kunst den Diskurs darüber zu eröffnen, dass sie helfen kann über etwas zu reden, wofür man keine Worte hat.

STANDARD: Was in Ihren Arbeiten, ob nun mit Tierkörpern oder menschlichen Leibern, immer fehlt, ist ein Gesicht. Warum?

Bruyckere: Ich brauche keine Köpfe oder Gesichter, weil sie Limitierungen sind. Ich möchte, dass die Skulptur zum Betrachter über die Bewegung oder ihre Haltung spricht. Deren Ausdruckskraft ist viel stärker ohne Köpfe wahrnehmbar. Köpfe bekämen zu viel Aufmerksamkeit. Es geht um eine universellere Ebene, nicht um ein Abbild von uns in der Gegenwart.

STANDARD: Zum Themenkreis Eros & Thanatos gehören zwei umschlungene menschliche Figuren in einer Vitrine ("Een", 2003/2004) und zwei schwebende Pferdeleiber ("Les Deux", 2001). Was zeichnet die eingefangenen Momente aus?

Bruyckere: Es ist etwa das In- und Auseinanderwachsen der Körper. Bei "Een" ist es so, dass die Füße nicht den Boden berühren, so als würden sie fliegen. Das steht für den kurzen Augenblick in dem wir eins werden. Den sollten wir schützen, weil man ihn nicht über längere Zeit bewahren kann. In "Les Deux" wirken die Pferdekörper von einer Seite so wie ein Paar das Sex miteinander hat, von der anderen Seite sind es zwei tote Körper, die gemeinsam gestorben sind. Wenn man vor dem Tod Angst hat, ist die Idee, nicht alleine gehen zu müssen, weniger Angst einflößend.

STANDARD: Was bedeutet es für Sie, Liebe und Tod in einem zu denken?

Bruyckere: Ich muss sie als etwas Ebenbürtiges ansehen, das zur gleichen Zeit existiert. Was macht man mit der Kluft, die entsteht, wenn man Eros & Thanatos separiert? Es ist die Erfahrung der Liebe, die mich dafür bereit macht, zu sterben.

STANDARD: Warum spielt das Pferd in Ihrem Schaffen eine größere Rolle als andere Tiere?

Bruyckere: Mit Pferden arbeite ich seit 1999. Lange Zeit konnte ich mir nicht vorstellen mit anderen Tieren zu arbeiten. Ich liebe ihre Form, den Umstand, dass sie so stark sind, eine Moral besitzen, sehr clever sind. Sie sind auf vielen wunderschönen Gemälden zu sehen, etwa mit Königen hoch zu Ross. Wir Menschen sind fähig, die Pferde zu kontrollieren. Ich glaube es sind die Tiere, die uns am nahesten kommen. Einer der Gründe ist also, dass ich kein anderes Tier finden konnte, dass ich so stark mit mir selbst in Verbindung bringen kann. Dann begann ich Ovids Metamorphosen zu lesen, die Geschichte von Diana und Aktaion. Aktaion wird in einen Hirsch verwandelt und schließlich von seinen Hunden gefressen. Mich interessierte der Umstand, dass er dafür, dass er die nackte Diana beim Baden beobachtet hat, bestraft wurde. Von da an begann ich Skulpturen mit Rehen/Hirschen zu machen.

STANDARD: Kann man sagen, dass sie Bilder von verschiedenen Zuständen der Seele machen?

Bruyckere: Ich glaube es ist eher eine Art menschliche Wesen zu betrachten. In "Inside me" habe ich die Äste, mit denen ich schon zuvor gearbeitet habe, mehr als Organe angelegt, sehr fragil. Die Arbeit zeigt das Innere und das braucht Unterstützung. Wären die Stricke und Kissen nicht, dann fielen diese fragilsten Teile von uns zu Boden. (Anne Katrin Feßler, 7.4.2016)