Die scheinbar volle Einmütigkeit unter den Nachfolgerepubliken des zerfallenen Jugoslawien und den anderen südosteuropäischen Staaten bei der Abwehr der Flüchtlingsströme darf über das blitzschnelle Wiederaufleben der nationalen Leidenschaften nach den jüngsten diametral entgegengesetzten Urteilen des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag nicht hinwegtäuschen. Das Urteil von 40 Jahren Haft wegen Völkermordes und Vertreibung gegen den bosnischen Serbenführer Radovan Karadžić und knapp eine Woche später der Freispruch für den üblen nationalistischen Hetzer und bosnisch-serbischen Freischärlerführer Vojislav Šešelj haben jeweils besorgniserregende Reaktionen von Belgrad bis Sarajevo, von Zagreb bis Prishtina ausgelöst.

Während für die Angehörigen der 8.000 auch auf Befehl von Karadzic ermordeten Männer und Jugendlichen in Srebrenica das Urteil von 40 Jahren "zu mild" sei, weil sie eine lebenslange Haftstrafe erwartet hätten, sind sie serbischen Nationalisten über den Schuldspruch empört. Die serbische Regierung hat offiziell kein Wort der Zustimmung für das Urteil geäußert. Der seit Sommer 2008 inhaftierte Kriegsverbrecher wird aber in Bosnien sogar vom Präsidenten der Republika Srpska, des mit Serbien eng verbundenen, aber formell der Republik Bosnien und Herzegowina angehörenden serbischen Teilstaats, Milorad Dodik, öffentlich als "ein Mann von Stärke und Charakter" gepriesen. Der Präsident hatte übrigens noch am 20. März ein Studentenwohnheim auf den Namen Radovan Karadžić getauft.

Viel brisanter ist das Echo des unverständlichen, ja verblüffenden Freispruchs für Šešelj. Das Tribunal hat mit einem Zwei-zu-eins-Mehrheitsvotum den Freischärlerführer in allen neun Anklagepunkten freigesprochen, obwohl der Ankläger 28 Jahre Haft gefordert hatte. Der frühere langjährige deutsche Richter am Tribunal, Wolfgang Schomburg, hat den Freispruch als ein "glattes Fehlurteil" und die ganze Prozessführung scharf kritisiert. Laut der abweichenden Meinung der italienischen Richterin des Haager Tribunals, Flavia Lattanzi, habe Šešelj Kriegsverbrechen wenn auch nicht persönlich verübt, so doch unterstützt, gefördert und begünstigt. Außerdem seien die von ihm rekrutierten und entsandten Einheiten an schweren Kriegsverbrechen beteiligt gewesen.

Die Empörung der Kroaten, Bosniaken und Kosovo-Albaner war zu erwarten. Der Freispruch liefert überall Wasser auf die Mühlen der rückwärtsgewandten Nationalisten. Die Folgen des Triumphs von Šešelj, der 2014 zur Krebsbehandlung vorzeitig aus der Haft nach Belgrad entlassen wurde, bedeuten aber eine enorme Belastungsprobe für den proeuropäischen Kurs des serbischen Ministerpräsidenten Aleksandar Vučić. Er amtierte übrigens bis 2008 als Generalsekretär der von Šešelj geführten Serbischen Radikalen Partei. Heute warnt er vor der nationalistischen, EU-feindlichen und prorussischen Politik seines früheren Chefs, die Serbien in den Abgrund treibe. Ob er gehört wird, muss bis zur Wahl am 24. April dahingestellt bleiben. Die Ausschreibung der vorgezogenen Wahl trotz einer stabilen Mehrheit könnte sich infolge des überraschenden Freispruchs als eine folgenschwere und überflüssige Fehlkalkulation des serbischen Ministerpräsidenten entpuppen. (Paul Lendvai, 4.4.2016)