"In Lagos ist jeder Einwohner zugleich Improvisationskünstler und Ingenieur." Busparkplatz in der nigerianischen Metropole.

Foto: Julian Röder, Courtesy Russi Klenner

Die Arbeiten des Berliner Fotografen Julian Röder sind derzeit in Wien zu sehen.

Foto: Privat

Die Ausstellung "Zoom!" im Architekturzentrum Wien zeigt Stadtbilder aus der Sicht namhafter Fotografen. Julian Röder widmete sich den infrastrukturellen Erschütterungen in der nigerianischen Megametropole Lagos.

STANDARD: Gelbe, ausrangierte Busse, Wellblechhütten bis zum Horizont, ein einziges Meer aus Smog und Staub. Was empfindet man als Fotograf bei so einem Anblick?

Röder: Ich bin mir selbst wie ein Fremdkörper vorgekommen. Als Fotograf ist man automatisch immer auch Beobachter und Voyeur, aber in diesem Fall waren die Kontraste sehr hart. Ich fühlte mich als Eindringling in eine Dystopie, von der ich nichts verstehe. Hinzu kommt, dass das Fotografieren in Lagos nicht einfach ist, weil es mit viel bürokratischem Aufwand verbunden ist und man für fast jedes Foto eine Bewilligung benötigt.

STANDARD: Warum empfinden Sie Lagos als Dystopie, als Horrorbild einer Stadt?

Röder: Lagos ist hart und herausfordernd. Die Stadt verlangt einem viel Kreativität und Eigenengagement ab. Und sie hat kaum etwas, was eine Großstadt zu einem funktionierenden Sozialraum macht – zumindest nicht in meinem Verständnis. Es gibt sehr wenige Straßen, aber sehr viele Autos. Morgens fahren alle in die Stadt rein, nachmittags wieder raus. Überall ist Stau, sogenannter Slow-Go. Es ist extrem. An manchen Tagen habe ich von einem Ende der Stadt zum anderen acht Stunden gebraucht.

STANDARD: Die größten Herausforderungen von Lagos sind Strom, Wasser und öffentliche Mobilität. In welchem Zustand befindet sich die Infrastruktur?

Röder: Was die Mobilität betrifft: Es gibt Sammeltaxis und gelbe Nahverkehrsbusse. Vor kurzem wurde nun ein Schnellbussystem, ein sogenannter Bus Rapid Transport (BRT), eingeführt. Das ist eine große Bereicherung für die Stadt. Soviel ich weiß, ist das das einzige BRT-System südlich der Sahara.

STANDARD: Was ist mit dem Rest?

Röder: Immer wieder bricht die öffentliche Stromversorgung zusammen. Wer es sich leisten kann, hat einen eigenen Generator. Einige sind klein wie Koffer, andere groß wie ein Lkw. Das Geräusch der Generatoren ist an jeder Ecke zu hören.

STANDARD: Wie finden sich die Menschen darin zurecht?

Röder: Wer in Lagos lebt, ist gezwungen, zu basteln und sich selbst zu organisieren. Die Stadt ist eine einzige Werkstatt. Die gelben Busse auf dem Busparkplatz, die ich fotografiert habe, belegen das sehr gut. Manche warten auf Passagiere, andere werden gerade gewartet. In Lagos ist jeder Einwohner zugleich Improvisationskünstler und Ingenieur.

STANDARD: Ihre Bildserie, die nun in der Ausstellung "Zoom!" zu sehen ist, heißt "Lagos Transformation". Worin besteht diese Verwandlung?

Röder: Das ist ein stadtbekanntes Schlagwort, ein Slogan des früheren Gouverneurs und heutigen Ministers für Energie, Infrastruktur und Wohnen, Babatunde Fashola. Er möchte Lagos komplett umkrempeln und in eine lebenswerte Stadt transformieren. Zumindest ist das seine Vision. Mir schien der Begriff sehr passend, denn tatsächlich befindet sich Lagos im Umbruch. Viele Blicke, die ich damals in meinen Fotos eingefangen habe, existieren heute nicht mehr. Viele Bewohner wurden abgesiedelt, und anstelle der früheren Slums und informellen Settlements gibt es heute Parks, Wohnhäuser und lukrative Bürobauten.

STANDARD: Lagos zählt zu den teuersten Immobilienmärkten Afrikas.

Röder: Lagos liegt zwischen Meer und Lagune eingezwängt und hat mit riesiger Platznot zu kämpfen. Ich habe den Eindruck, dass das ein sehr harter und unregulierter Immobilienmarkt ist.

STANDARD: Mit rund 18 Millionen Einwohnern ist der Großraum Lagos heute die größte Stadt Afrikas und die schnellstwachsende Stadt der Welt. Laut Prognosen der UN wird Lagos 2020 die drittgrößte Stadt der Welt sein. Wird Lagos diesem Wachstum standhalten können?

Röder: Ich glaube schon. Lagos hat gelernt, mit Chaos und Planlosigkeit umzugehen, und irgendwie scheint sich die Stadt mit diesem Know-how gut erhalten zu können. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie eines Tages kollabieren wird. Die Menschen sind gut vorbereitet.

STANDARD: Ist die Großstadt, die Sie in Ihren Bildern immer wieder einfangen, ein gerechter Lebensort?

Röder: Nein. Auf keinen Fall. Die Großstadt ist der Raum, in dem sich Chancen öffnen können und der aus diesem Grunde auch viele Leute, sehr viele Leute anzieht. Das führt jedoch unweigerlich zu Machtverhältnissen, zu Kämpfen um Behauptung von Raum und Verteilung von Ressourcen. Und das ist meist alles andere als gerecht.

STANDARD: Pedro Gadanho, Kurator am Museum of Modern Art in New York, hat einmal gesagt: "Jede einzelne Großstadt ist beschissen. Es geht nur darum herauszufinden, welche der beschissenen Städte am besten funktioniert." Stimmen Sie dem zu?

Röder: Schwer zu sagen. Ich denke, Großstädte sind eigentlich eine wunderbare Sache. Allerdings sind die Probleme einer Gesellschaft in der Stadt einfach viel sichtbarer. Die Frage ist, ob man das der Stadt als Siedlungsform in die Schuhe schieben kann und darf.

STANDARD: Sie haben fast drei Wochen in Lagos verbracht. Wie verändert sich in dieser Zeit der Blick des Fotografen?

Röder: Normalerweise hat man nach zwei Wochen schon ein vertrautes Verhältnis zu einem Ort aufgebaut. Das ist mir in Lagos nicht gelungen. Die Stadt ist berauschend und hat mich bis zum letzten Tag permanent überwältigt.

STANDARD: Sie sind beruflich viel in Afrika unterwegs. Was reizt Sie an Gambia, Nigeria, Ägypten?

Röder: Die Erdung der Menschen. Das Erlernen des Fremden. Der Kontrast zu meinem eigenen Leben.

STANDARD: Sie beschäftigen sich in Ihrer Arbeit prinzipiell viel mit politischer und wirtschaftlicher Macht und mit Ungleichheit und Ungleichgewichten.

Röder: Ich beschäftige mich mit in meiner Fotografie mit Macht und Ökonomie. In diesen Widersprüchen und Ungerechtigkeiten, scheint es, kann ich mich am besten entfalten. Ich brauche diese Reibfläche für meine Arbeit. Ich möchte diese Spannungen und Ungerechtigkeiten abbilden und thematisieren.

STANDARD: Was sagen uns Ihre Bilder?

Röder: Der Mensch macht, was er kann und wozu er imstande ist, wenn man ihn nicht daran hindert.

STANDARD: Welchen Beitrag kann die Fotografie leisten, um diese "Dystopie", um dies mit Ihren eigenen Worten auszudrücken, zu lindern?

Röder: Mit meiner Arbeit möchte ich Menschen die Möglichkeit bieten, sich beim Betrachten Gedanken über die Welt zu machen. Manchmal kommt es mir vor, als seien meine Fotos eine Möglichkeit, die Erschütterungen in der Welt seismografisch zu erfassen. (Wojciech Czaja, 3.4.2016)