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Auf römischen Landkarten wurden die Gebiete außerhalb der Grenzen mit "Hic sunt leones" (Hier sind Löwen) beschriftet.

Foto: APA/EPA/PETER LAKATOS

Ich denke aus gegebenem Anlass seit einer Weile über Grenzen nach und die Frage, welche ideengeschichtliche und symbolische Funktion sie haben. Wir sind heute oft versucht, das Vorhandensein von territorialen Grenzen für etwas Selbstverständliches und Naturgegebenes zu halten. Aber mir scheint die Idee, die Erde (die doch offensichtlich niemandem "gehört", sondern Lebensraum aller ist) in Bereiche aufzuteilen und Linien zu ziehen, die bestimmte Menschen überschreiten dürfen und andere nicht, keinesfalls selbstverständlich. Es ist sogar eigentlich eine verrückte Idee, die gegen ein grundlegendes Gerechtigkeitsempfinden verstößt. Denn mit welchem Recht sollte ein Mensch einen anderen daran hindern dürfen, von hier nach dort zu gehen?

Klar, zwischen dem Naturzustand und heute liegt eine Geschichte der menschlichen Gesellschaft. Wie also führte die zu Grenzziehungen und der Vorstellung, diese seien legitim? In der gegenwärtigen Debatte wird diese Frage meist materialistisch beantwortet: mit Überlegungen zu Wirtschaft, Eigentum und dergleichen. Grenzen sollen Eigentum schützen, die "Wirtschaftsflüchtlinge" kommen nach Europa, weil es hier mehr Wohlstand gibt.

Das Trennen von innen und außen

Ich denke aber, dass die wichtigste Funktion von Grenzen nicht ist, Eigentum und Wohlstand zu schützen (oder auch: deren gerechte Verteilung zu verhindern), sondern ein Innen von einem Außen zu trennen: ein Innen, in dem Ordnung herrscht, und ein Außen, in dem Chaos herrscht.

Die Römer beschrifteten auf ihren Landkarten die Gegenden außerhalb der Grenzen des Römischen Reiches mit "Hic sunt leones" (Hier sind Löwen). Die staatliche Ordnungsmacht reichte nur bis zu diesen Grenzen. Nur innerhalb der Grenzen war man durch Gesetze geschützt, nur hier gab es ein Rechtssystem, Soldaten, eine Bürokratie, an die man sich wenden konnte, wenn einem Unrecht widerfuhr. Außerhalb dieser Grenzen war Wildnis, Löwen. Eine ähnliche Funktion hatten Stadtmauern: Innerhalb war man sicher, außerhalb drohte man, unter die Räuber zu fallen.

Auch die christliche Vorstellung vom Paradies entwickelte sich im Mittelalter genau entlang dieser Logik von Innen und Außen. War die frühe christliche Gemeinde noch mit dem Anspruch aufgetreten, mithilfe einer jesuanischen Ethik das "Reich Gottes auf Erden" zu verwirklichen, ganz allgemein, überall und für alle, trat später gewissermaßen eine abgespeckte Version davon in Kraft: Das umzäunte "Paradiesgärtchen". Das Paradies kann nicht überall sein, das friedliche, harmonische christliche Lebensideal existiert nur innerhalb der Klostermauern, außerhalb herrschen die Gesetze von Gewalt und Chaos. (Diese These stammt von Rita Nakashima Brock und Rebecca Ann Parker aus ihrem Buch "Saving Paradise").

Recht und Ordnung

Die Funktion all dieser Grenzen war also nicht, Menschen daran zu hindern, sie zu übertreten, sondern sie begrenzten sozusagen das Gebiet, innerhalb dessen es möglich war, für Recht und Ordnung auch tatsächlich zu sorgen. Dass der westliche Eindruck der Gesetzlosigkeit meist auf die entsprechenden außerhalb der eigenen Grenzen liegenden Gegenden gar nicht zutraf, dass dort vielmehr indigene Gesellschaften lebten, die durchaus Gesetze und Regeln und Ordnungsprinzipien hatten, nur eben welche, die von einem westlich-universalistischen Blick nicht erkannt und verstanden wurden, steht dabei auf einem anderen Blatt.

Denn mit der Entstehung der Nationalstaaten wurde die gesamte Welt kolonisiert und in Staaten nach römisch-westlicher Machart aufgeteilt. Es blieb keine Wildnis mehr übrig, denn jedes Fitzelchen Erde wurde nun dem ein oder anderen Nationalstaat unterworfen oder zugeschlagen. Seither haben wir uns angewöhnt, Grenzen nicht mehr als Trennung zwischen Innen und Außen zu betrachten, sondern als Trennung zwischen dem einen und dem anderen. Als Trennlinien zwischen zwei souveränen Staaten, die eine jeweils unterschiedliche Ordnung haben – aber überall herrscht eben irgendeine Ordnung.

Keine ökonomischen Beweggründe

Vielleicht erleben wir zurzeit eine Periode, wo diese Weltordnung zusammenbricht, wo die Wildnis, in der nicht mehr Menschen und Gesetze herrschen, sondern Löwen, wieder wächst. Oder vielleicht erstmals wächst, weil die Gesetze und Ordnungen, die vor der Kolonialisierung dort das Zusammenleben geregelt und zivilisiert haben, inzwischen zerstört wurden, teilweise aus Ignoranz, teilweise mit Absicht.

Die Grenze zwischen Europa und dem Drumherum jedenfalls hat heute definitiv nicht mehr den Charakter einer Trennung zwischen dem einen und dem anderen, sondern sie trennt Innen und Außen. Wer es nicht hineinschafft in die Festung Europa, kann nicht einfach im Rahmen einer anderen Rechtsordnung leben, sondern muss gegen die Löwen ums nackte Überleben kämpfen.

Es ist falsch, dieses Geschehen in erster Linie unter ökonomischen Vorzeichen zu betrachten. Menschen, die nach Europa wollen und nicht hereingelassen werden ins "Paradies", sind nicht auf der Suche nach materiellem Wohlstand, sondern sie fliehen vor den Löwen, also vor der Abwesenheit irgendeiner verlässlichen gesellschaftlichen Ordnung. Ihr Problem ist nicht nicht in erster Linie Armut, sondern die Unsicherheit, die daraus erwächst, nicht zu wissen, wer morgen das Sagen hat oder welche Regeln morgen gelten. In einem stabilen, wenn auch von materieller Knappheit geprägten System kann man irgendwie planen, einen eigenen Entwurf vom Leben haben und von dem, was man tun will. In einem System der reinen Willkür geht das nicht. Dort ist man nur Spielball anderer und nicht Protagonist, Protagonistin des eigenen Lebens. (Die Idee, dass Willkür das Schlimmste an Herrschaft ist, habe ich von Simone Weil).

Geld als Lösung

Die Terroranschläge auf westliche Ziele machen das ebenfalls deutlich, vielleicht gar nicht mal in der Substanz, auf jeden Fall aber in der Symbolik: Sie werden nicht als ganz normale Verbrechen verstanden (die die staatliche Polizei dann auf ganz normalem Weg verfolgt, wie das innerhalb der Grenzen eben üblich ist), sondern als quasi externer Einschlag: Die Löwen greifen an, punktuell, unkontrollierbar. Sie durchlöchern das Konzept vom abgeschotteten Paradies, zerstören die Illusion, dass die Grenzzäune die Löwen draußen halten können.

Der Fehler liegt nicht nur darin, dass "der Westen" versucht, die Grenzen seines Paradiesgärtleins abzuschotten, was ihm kaum gelingen wird. Sondern auch darin, das ganze Problem in erster Linie mit Geld lösen zu wollen. Safeta Obhodjas, die 1992 vor dem Bürgerkrieg in Bosnien nach Deutschland geflohen ist, kritisiert in einem Interview, wie nach dem "Friedensschluss" auf dem Balkan Unsummen an Geld nach Bosnien geflossen sind, wodurch genau diese nichtstaatlichen "Löwen" reich und mächtig geworden sind.

Und besonders fatal ist, dass beim Versuch, die Löwen möglichst effektiv zu bekämpfen, die Grenzen von Recht und Ordnung selbst gedehnt und durchlöchert werden. (Antje Schrupp, 1.4.2016)