Teil 1
Die Fensterrollos sind heruntergelassen und zugedreht. Nur ein kleines Schreibtischlicht vermag das verdunkelte Zimmer zu erhellen. An der Tür klopft es, doch der konzentrierte Tomislav Nikolić, seines Zeichens Präsident von Serbien, hört es nicht. Während er wie versessen auf seinen Bildschirm starrt, beginnt im Hintergrund sein Lieblingslied zu spielen: "Mitar Mirić – Ne može nam niko ništa" (Niemand kann uns etwas antun).
"Zakuni se, moja zvezdo sreče (Schwöre, mein Glücksstern,)
da nas niko rastaviti neće." (dass uns niemand auseinanderbringen wird.)
Wie ferngesteuert dreht er die Lautsprecher lauter, ohne dabei den Blick vom Bildschirm zu lassen. Just in dem Moment, in dem der Refrain beginnt, betritt der serbische Premier Aleksandar Vučić das Zimmer. Als dieser das Lied – das auch sein Lieblingslied ist – hört, denkt er sich kurz: "Jao, gde me nađe"*** und fängt an, laut mitzugrölen.
"Ne može nam niko ništa (Niemand kann uns etwas antun,)
jači smo od sudbine, (wir sind stärker als das Schicksal,)
mogu samo da nas mrze (sie können uns nur hassen,)
oni što nas ne vole." (die, die uns nicht lieben.)
Verstört nimmt Tomislav Nikolić wahr, dass eine fürs Singen ungeeignete Stimme, die immer näher zu kommen scheint, seine Lieblingsverse verunreinigt. Gerade rechtzeitig erkennt er aus dem Augenwinkel, dass die grölende Person sich seinem Schreibtisch nähert, und so schafft er es noch, seine Hände aus seinen Schoß auf den Tisch zu legen. Für das Wegklicken des Inhalts auf seinem Bildschirm reicht die Zeit jedoch nicht.
"Ah, ich sehe, auch du magst Severina", sagt Aleksandar zu Tomislav, als er das alte Video der kroatischen Sängerin, das zeigt, wie diese nackt auf einem Boot mit einem verheirateten Mann ihre Karriere zu retten versucht (wie wir heute wissen, zwischenzeitlich mit Erfolg, später mussten andere Strategien herhalten), entdeckt. Sich der unangenehmen Situation bewusst, versucht Aleksandar diese durch das übliche Begrüßungsprozedere zu überwinden. Also lehnt er sich nach vorne und möchte Tomislav, der serbischen Tradition entsprechend, dreimal küssen.
"Küss mich bitte jetzt nicht, ich bin gerade etwas verschwitzt", sagt Nikolić, dem sogar die Dunkelheit des Zimmers die Röte in seinem Gesicht nicht verbergen kann. Einige Sekunden des Schweigens verstreichen, als Tomislav dreimal in die Hände klatscht und das Licht im Zimmer angeht.
Aleksandar umrundet den Tisch und setzt sich auf den gemütlichen Sessel gegenüber dem Präsidenten. "Das muss dir doch nicht peinlich sein, wer von uns hat sich noch nicht ...", versucht er die Situation zu relativieren, wird jedoch von Tomislav unterbrochen.
"Sei still!", antwortet Nikolić wütend.
Verärgert über den rauen Ton des Präsidenten erwidert Aleksandar süffisant: "Aber doch nicht während der Arbeit ..."
"Ist schon gut, was verschafft mir die Ehre?"
Das süffisante Lächeln weicht einer ernsten Miene: "Du wirst schon alt. Hast du es etwa vergessen?"
"Was denn?"
"Ach, komm, Tomo. Das haben wir uns vor Jahren doch geschworen, dass wir einmal monatlich uns gegenseitig testen, ob wir noch richtige Serben sind oder schon verweichlichte Westler."
"Ist schon wieder so weit?"
"Ja!"
"Na gut, hab' derzeit eh Zeit. Krieg' gerade keine Direktiven, weder von Russland noch von der EU. Also gibt's nicht viel zu tun."
"Dann lass und anfangen, bin bereit."
"Was antwortest du, wenn jemand die serbischen Kriegsverbrechen der 1990er aufarbeiten möchte und danach fragt, wie du dazu stehst, dass in der Republik Srpska Krajina in den Jahren 1991, 1992 knapp 170.000 Nichtserben, also vorwiegend diese schmuddeligen Kroaten, vertrieben wurden."
"Ich gehe nicht darauf ein, sondern halte dagegen, dass ein paar Jahre später 200.000 Serben aus dem Gebiet vertrieben wurden."
"Gut, das war noch leicht. Aber was erwiderst du, wenn jemand sagt, man kann Verbrechen nicht gegeneinander aufwiegen, und dass es zwischen den beiden Vertreibungsarien Unterschiede gebe, die historisch aufgearbeitet werden müssen? Schließlich sollen die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft gezogen und nicht ganze Gesellschaften in der Knechtschaft für die Verbrechen anderer gehalten werden."
"Dann antworte ich, das wird nie geschehen, denn ins Gefängnis gehe ich nicht." (lacht)
"Aleksandar, bleib ernst."
"Na gut, ich antworte, dass zuerst die kroatischen Verbrechen an den Serben während der NS-Zeit aufgearbeitet werden müssen."
"Sehr gut. Was ist, wenn jemand über angebliche serbische Kriegsverbrechen im Kosovo sprechen möchte."
"Da habe ich mehrere Möglichkeiten. Ich lenke entweder auf die Organgeschichte ab, also erzähle davon, dass Albaner während des Krieges serbischen Kriegsgefangenen Organe entnommen und diese auf dem Schwarzmarkt verkauft haben. Oder, was, denke ich, derzeit noch besser wäre, ich spreche über islamistischen Terror und die Jihadisten aus dem Kosovo, die in Syrien kämpfen. Und falls ich mit Personen aus Ländern spreche, wo es auch Abspaltungstendenzen mancher Regionen gibt, dann frage ich sie, wie sie reagieren würden, wenn eine ihrer Provinzen ernst macht und sich abzuspalten droht."
"Okay, guter Junge. Und was ist mit Bosnien ..."
"Da musst du gar nicht mehr weiterreden, ich war letztes Jahr in Srebrenica, habe eine kassiert, also ist diese Geschichte für mich, für uns, also für ganz Serbien für alle Zeit geregelt."
"Die waren noch leicht, aber was ist, wenn jemand behauptet, dass der Grund, warum wir ständig die unaufgearbeitete Vergangenheit politisch ausspielen, der ist, dass wir keine politischen Konzepte haben, die Gegenwart und Zukunft unserer Bevölkerung zu verbessern? Also dass die einzige Legitimation für unser Regieren die ist, dass wir die Aufarbeitung verhindern und gleichzeitig die dadurch schwer heilbaren Wunden in der Bevölkerung zu unseren Gunsten nutzen?"
"Wer soll sich in Serbien noch trauen, mit solchen Wahrheiten rauszurücken?"
"Wenn keine unserer Medien, dann vielleicht ausländische Medien."
"Das finde ich scheiße, dass man internationale Medien schwer zensurieren kann, aber da hilft uns unser Narrativ, wo wir alles Kritische aus dem Ausland als westliche Propaganda, die uns schaden will, deklarieren."
"Unsere Unterrichtsstunden bei Nemanja Kusturica haben sich da voll ausgezahlt."
"Ja, Politik ist wirklich nichts anderes, als Filme zu produzieren. Man muss sich nur an bestimmte dramaturgische Regeln halten."
"Absolut. Je länger ich im Amt bin, desto besser verstehe ich, was er mit dem Hitchcock'schen Empathie-Trigger meinte. Kannst dich noch erinnern?", fragt Nikolić den Vučić.
"Was es ist, ja, aber wie hat er es uns damals erklärt?"
"Das Publikum empfindet immer Sympathie für die Person, die ein Hindernis zu überwinden hat."
"Stimmt, das war das mit der Szene aus 'Psycho', oder?"
"Genau. Der Mörder versucht das Auto mit der Leiche im Kofferraum in einem Teich zu versenken, bis dahin ist die Sympathie des Publikums nicht aufseiten des Mörders, man hofft vielleicht sogar, dass er erwischt wird. Aber in dem Moment, wo das Auto nicht so im Wasser zu versinken scheint, wie der Mörder sich das erwartet hat, setzt der Empathie-Trigger ein. Die Zuseher versetzen sich in seine Lage, und die Sympathie switcht plötzlich zu seinen Gunsten, weil er ein Hindernis zu überwinden hat."
"Und auf die Politik umgemünzt, wenn wir uns immer so positionieren, dass wir so dastehen, als hätten wir Hindernisse zu überwinden, die von einem großen Teil der Bevölkerung auch als Hindernisse, Unrecht oder ungerechtfertigtes Leid empfunden werden, also wenn wir als Opfer dastehen, da hilft uns ..."
"... natürlich die unaufgearbeitete Historie!"
"Genau, dann brauchen wir nichts und niemanden zu fürchten."
"Außer, wir werden als ein Hindernis angesehen."
"Aber um das zu verhindern, helfen uns das Nichtaufarbeiten der Vergangenheit und die Medienzensur."
"Wir halten sie alle in Schach", lacht Nikolić.
Teil 2
Während die beiden genüsslich vor sich hinkichern, bringt die Sekretärin von Tomislav Nikolić Kaffee vorbei. Sowohl Tomo als auch Aleks genießen den türkischen Kaffee und erfreuen sich ihrer politischen Potenz. Als der Kaffee ausgetrunken ist, dreht Aleksandar die Tasse um und lässt sie für kurze Zeit so auf dem Teller stehen. Als bekennender Kaffeesatzleser, der zahlreiche Bücher über Kaffeedomantie besitzt, ist ihm Horoskoplesen zu uncool. Er erhofft sich von diesem Prozedere, Handlungsableitungen herauslesen zu können. In letzter Zeit häufen sich in seinen Kaffeerückständen negative Linienverläufe, deren Symbolik ihm dank seiner Belesenheit in dieser Materie nur allzu bekannt ist. Und auch heute ist das so. Der besorgte Vučić findet, dass es an der Zeit ist, seine Sorgen mit Tomo zu besprechen.
"Weißt du, ich bin nur noch für zwei Jahre sicher im Amt. Und in meinem Kaffeesatz finde ich ständig zwei Linien, die auseinandergehen, eine ist kürzer und eine länger."
"Ja, und?", sagt Tomislav.
"Würdest du dich mehr mit der Wissenschaft des Kaffeesatzlesens beschäftigen und nicht auf Anrufe aus Brüssel oder Moskau warten, wüsstest du, was das bedeutet", sagt ein verärgerter serbischer Premier, der sich vom serbischen Präsidenten nicht ernst genommen fühlt.
"Hm", blickt Nikolić verwundert den Vučić an, und nach kurzer Bedenkzeit fragt er den serbischen Premier gelangweilt: "Also gut, was bedeutet das?"
"Dass ich mich an einem Scheideweg befinde und etwas tun muss. Sonst könnte ich auf dem kurzen Weg landen, sprich bei der nächsten Parlamentswahl abgewählt werden."
"Das sagt dir dein Kaffeesatz?"
"Ja, täglich erinnert er mich daran."
Mit gesenktem Blick und hochgezogenen Stirnfalten streicht sich Nikolić über seine Augenbrauen. Er überlegt und überlegt und überlegt und entschließt sich, Vučić weiter anzuhören: "Warum glaubst du, dass du abgewählt werden könntest?"
"Wenn ich weiter nichts tue, dann habe ich nichts Öffentlichkeitswirksames vorzuweisen", sagt Aleksandar und stellt seine Kaffeetasse samt Teller auf den Tisch.
"Das brauchst du auch nicht, dafür haben wir doch den Nationalismus!", beruhigt der Präsident seinen jüngeren Parteikollegen.
"Aber was ist, wenn sich jemand in der nahen Zukunft traut, uns herauszufordern, und sagt, was habt ihr schon gemacht?"
"Hm, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Ich dachte, wir können diese Strategie ewig spielen."
"Du hast wahrscheinlich recht. Unsere Leute sind auf das feudale System programmierte Untertanen mit einem Stimmrecht. Und da sie dermaßen ausgehungert sind, bleibt ihnen wenig Raum für Reflexion der politischen Ereignisse. Also selbst wenn es jemand anspricht, werden sie es als nicht als wichtig empfinden."
"Hahaha."
"Aber dennoch, sollten wir nicht für den Fall der Fälle vorbereitet sein?"
"Ach Gott, Aleksandar, ich hab' jetzt echt keinen Bock, mir Gedanken über hypothetische Szenarien zu machen. Aber gut, fällt dir was ein?"
"Nicht wirklich, aber seit ich in Srebrenica aufs Maul gekriegt habe und ich mich wieder als den Armen, der für das serbische Volk einsteckte, präsentiere, sind meine Beliebtheitswerte kontinuierlich extrem hoch."
"Ja, das stimmt! Der Kusturica war echt Gold wert: Wenn wir Opfer sind, sind alle Opfer, und wir bleiben beliebt."
"Genau ... Aber ob das für die nächsten zwei Jahre bis zur Wahl auch noch reicht? Wir brauchen irgendetwas, wo wir den Anschein erwecken, wir haben etwas getan. Für den Fall der Fälle."
"Aber wir können uns ja nichts aus dem Hut zaubern."
"Hm ... Blöd, jetzt holt uns unsere Faulheit ein."
"Wirklich blöd."
Beide schweigen für kurze Zeit, und zappelig sagt Aleksandar plötzlich: "Hey, mir fällt gerade etwas ein: Wir haben doch etwas vorzuweisen!"
"Wirklich, was?", fragt Nikolić.
"Na, das eine Projekt 'Belgrad am Wasser' (Beograd na vodi)."
"Das ist aber nicht wirklich von uns."
"Egal, während unserer Regierungszeit pumpen wir viel Geld in die Bewerbung dieses Projekts, also können wir es als solches schon verkaufen."
"Gute Idee. Ich habe vor kurzem einen alten Mann darüber reden gehört. Der freute sich so über das Projekt, und ich sah ihn an und dachte mir nur, warum freust du dich, du wirst davon absolut nichts haben."
"Ja, manche Leute sind echt lustig. Aber abgesehen von den irrsinnigen Kosten hat das Projekt viele öffentlichkeitswirksame Vorteile. Es erweckt den Eindruck, in Belgrad geschieht etwas mit Tragweite. Und der gedemütigte Otto Normalverbraucher, dem wir jegliches Selbstwertgefühl genommen haben, kann sich dadurch bedeutend fühlen, da in seiner Umgebung etwas Pseudobedeutendes geschieht."
"Der Nationalismus als politische Ideologie ist schon geil. Man kann Personen ohne Selbstwertgefühl das Gefühl vermitteln, jemand zu sein, ohne dass sie dafür etwas tun müssen."
"Nationalismus ist extrem cool, das ist so verlockend für die Leute, dass sie dafür die Herrschenden, also in dem Fall uns, nicht hinterfragen, solange wir ihnen etwas geben, worauf sie stolz sein können. Sie vergessen sogar, wer für ihren ganzen Kummer verantwortlich ist, und alleine durch die Projektion einer potenziell besseren Zukunft aufgrund einiger Türme am Wasser glauben sie, wir würden arbeiten. Hahaha."
"Und die, die es nicht vergessen und nicht glauben, sind ja mundtot", zwinkert Nikolić dem Vučić zu und fährt fort: "Das mit den drei Milliarden Euro aus den Emiraten, die angeblich arabische Investoren in das Projekt investieren, hast du dir super ausgedacht. Wie kamst du eigentlich auf die Summe?"
"Na ja, drei ist ja wohl klar, die heilige serbische Zahl. Und warum Milliarden? Hört sich einfach nach viel Geld an."
"Du Schlingel."
"Aber ob dieses eine Projekt wirklich reicht?", ist sich Vučić noch immer nicht sicher, ob er dadurch auf der längeren Linie der Kaffeesatz-Prophezeiung in zwei Jahren wandern wird.
Wieder verstreichen einige Sekunden, und Aleksandar sagt: "Jetzt sind wir ein bisschen vom Thema abgekommen. Ich wollte eigentlich auf etwas anderes hinaus, bevor ich über die Türme am Wasser sprach. Warte, was war das noch mal?"
"Du bist superbeliebt, weil wir die Nationalismus-Klaviatur auswendig können, und so weiter."
"Ah, stimmt ... Mir fällt wieder etwas ein. Schau, ich bin ja, wie du sagtest, superbeliebt, und im März werden ja die Urteile für Radovan Karadžić und Vojislav Šešelj gefällt, und auch der Ratko Mladić sollte bald sein Urteil erhalten."
"Eine Schande ist das."
"Ja, aber abgesehen davon ist das wieder ein Moment, wo wir den Empathie-Trigger auslösen könnten", sagt Vučić ganz aufgeregt und selbst überrascht über den luziden Gedankengang.
"Ja, sprich weiter."
"Beliebter werde ich nicht, und wenn wir früh genug eine vorgezogene Parlamentswahl ansetzen, am besten kurz nach den Urteilen, haben unsere politischen Kontrahenten nicht genug Zeit, um eine vernünftige Debatte zu starten, und wir können wieder die Retter der 'serbischen Sache' spielen."
"Joooj, aus dir wird noch mal ein ganz Großer. Du hast recht, wir dürfen uns die Legitimation unserer Regierung nicht aufs Spiel setzen", sagt Tomislav voller stolz zu Aleksandar.
"So gewinnen wir vier weitere Jahre, wo uns vielleicht etwas einfällt, was wir für die Bevölkerung tun könnten, oder idealerweise finden wir Hindernisse in dieser Zeit, die uns daran hindern."
"Aleks, du bist ein Genie!"
"Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie mir diese Prozesse Sorgen machten. Ich dachte schon, wir können dem nichts entgegensetzen und dass die Prozesse eine gesellschaftliche Debatte bei uns starten würden, und in zwei Jahren hätten wir dann Probleme bei der Wiederwahl gehabt."
Teil 3
Beide schauen sich sorgenfrei an und hören, wie im Hintergrund das Lied "Svedok" vom Beogradski Sindikat beginnt:
"'Teo bi svak'i (Jeder würde gerne)
da ima život ovak'i." (so ein Leben haben.)
Während Beide zum Beat mit dem Kopf nicken, sagt Alesksandar: "Jetzt bist du aber an der Reihe. Oder wolltest du dich davor drücken?"
"Serbentest? Bin gerade in richtiger Stimmung, schieß los!"
"Ich mach's dir leicht, und wir reden über die möglichen Urteile in Den Haag und wie du darauf reagierst. Okay?"
"Ja, mach nur."
"Stell dir vor, Karadžić wird wegen Genozids verurteilt."
"Das machen sie nicht, da gibt es ja keine Beweise."
"Ich sagte doch, stell es dir vor. Wie reagierst du?"
"Ich gehe nicht auf das Urteil ein, sondern spreche darüber, dass das Urteil unfair ist, weil der Kroate, dieser Gotovina, ja freigesprochen wurde und ..." Nikolić grübelt, aber ihm fällt nichts ein.
"Denk doch nach, was wäre nach so einem Urteil wichtig zu sagen?"
"Hm, keine Ahnung."
"Denk nicht an Serbien, sondern an die Republika Srpska, weil dadurch ja die Interpretation entstehen könnte, dass sie quasi auf einem Genozid aufgebaut ist."
"Verstehe, ich würde dann noch sagen, dass dieses Urteil nicht dazu führen dürfe, dass die Republika Srpska in ihrem Bestehen angegriffen wird."
"Sehr gut. Was sagt du, wenn dann auch noch Šešelj und Mladić verurteilt werden?"
"Ich zähle die Gefängnisjahre auf, wie viele die Serben in den Haager Tribunalen aufgebrummt bekommen haben, mittlerweile nämlich schon über tausend, und halte die knapp über hundert Jahre dagegen, die beispielsweise Bosniaken eingeheimst haben, und schon wieder ist das Unrecht auf unserer Seite."
"Hahaha, das ist zu einfach."
"Nein, nein, das ist 'zu' einfach", betont Nikolić auf eine für ihn fast schon coole Art.
"Sie mögen sie vielleicht verurteilen, aber ihren Geist können sie damit nicht besiegen."
"Und von dem werden wir noch lange zehren", und wieder zwinkert Nikolić dem Vučić zu.
"Ich glaube, es reicht für dieses Mal. Wir beide haben wieder mit Bravour bestanden."
"Ach, schade, ich bin gerade in Fahrt gekommen. Aber stimmt, für heute reicht es. Wir haben ja nicht nur die Tests bestanden, sondern auch die Zukunft des Landes gesichert."
"Mir brauchst du diese politischen Parolen nicht zu verkaufen", einige Sekunden verstreichen, "obwohl ... das könnte ich als Grund für die Neuwahlen angeben", sagt Aleksandar, und zufrieden mit sich selbst steht er von seinem gemütlichen Sessel auf.
Während die beiden serbischen Spitzenpolitiker sich verabschieden, erreicht im Hintergrund das Lied "Svedok" seinen Höhepunkt:
"I kol'ko vidim, rođeni, (Und wie ich sehe, Lieber,)
još dugo ću da trajem." (ich werde noch lange währen.) (Siniša Puktalović, 31.3.2016)