Peter Sloterdijk: Der Jongleur der Begriffe verabschiedet sich vom Konzept der Moderne. Am Wort sind die Nationalstaaten als Komfortzonen mit "dicker Membran".


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Wien – Es war Peter Sloterdijk noch nie gegeben, sich zeitdiagnostisch in Enthaltsamkeit zu üben. Im Jänner hielt es der Karlsruher Philosoph für angebracht, die Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Angela Merkel rüde abzukanzeln. Die deutsche Regierung habe sich, teilte Sloterdijk der Zeitschrift Cicero mit, "in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben".

Mit seiner Kritik stand Sloterdijk (68), spürbar unter dem Eindruck der Kölner Silvesterereignisse fabulierend, nicht allein da. Streiterregend war eher die ideengeschichtliche Abschweifung, mit der Sloterdijk an sein Verdikt anknüpfte. "Wir haben das Lob der Grenze nicht gelernt", so der Philosoph. In Deutschland würde geglaubt, "eine Grenze sei nur dazu da, um sie zu überschreiten".

Sloterdijks allzu gut gelauntes Plädoyer für die "dickwandige Membran" gehört in ein Konzept, das Sloterdijk als Meister der Metaphorik selbst entworfen hat. In ihm werden nationalstaatliche Gebilde mit Containern verglichen. Als aussichtsreich wäre demzufolge ein Flüchtling zu bezeichnen, der auf die "dünnwandige" Außenhaut einer Einwanderungsgesellschaft prallt. Er besäße gute Chancen, die Membran zu überwinden. Das besorgniserregende Ausmaß von Sloterdijks Polemik wird hingegen deutlich, wenn man sich die Bedeutung vor Augen hält, die der Autor mit dem Wort "Grenze" offenbar verbindet.

In dem kürzlich erschienenen Essayband Was geschah im 20. Jahrhundert? hält der Philosoph im zentralen Text des Buches Gerichtstag. Auf der Anklagebank sitzt das abgelaufene Jahrhundert. Wie immer man dieses zu rechnen geneigt ist, ob von 1914 bis 1989 oder anders: Seine Bilanz gilt nicht nur mit Blick auf die Millionen von Toten als verheerend. Die Begründung dafür liegt laut Sloterdijk im Geschehen der Entlastung.

Der europäische Mensch nimmt spätestens seit dem 18. Jahrhundert Abschied von der alten Bedrückung, der er durch Armut und Mangel, durch Ausbeutung, durch schlechte landwirtschaftliche Erträge ausgesetzt war. Dabei hilft ihm eine eigentümliche Umkehrung aller Werte, die nicht erst Nietzsche als den entscheidenden Epochenbruch markiert hat. Der Glaube an Gott verflüchtigt sich. An die leer gewordene Stelle tritt ein Denken, das die alten Transzendenzvorstellungen mit beispielloser Brutalität in die Wirklichkeit herüberzerrt.

Die Bühne betritt eine neue Spezies, der "Jungrealist". Er ist Junghegelianer ("Alles was ist, ist vernünftig") und als solcher unternehmungslustig. Er besitzt Anrecht auf den Titel eines Radikalen. Er macht sich daran, Realitätsdimensionen, die niemand vor ihm enthüllt hat, durch Handlungen zu manifestieren. Radikal ist jemand, der Tatsachen schafft. Fortschrittler sind, aus einem solchen Blickwinkel betrachtet, Menschen, die das "wahre" Reale überhaupt erst zum Vorschein bringen.

Welt auf dem absteigenden Ast

Die Welt, wie sie beschaffen ist, sitzt dagegen unweigerlich auf dem absterbenden Ast. Das Reich des Realen steht immer erst bevor. Seine Themenliste umfasst alles, was Progressiven lieb und teuer ist: der Willensgrund der Welt, die menschliche Arbeit, die Klassenkämpfe, die Bewegungen des Kapitals, die sexuelle Libido.

Durch Sloterdijks staunenerregende Begriffsmusik hindurch wird das Konzept einer Vollbremsung deutlich. Wenn modernes Denken bedeutet, dass die Natur Mensch wird, um ganz zu sich zu kommen – so muss umgekehrt der Mensch ganz Natur werden wollen. Voilà: Die Bühne wird frei für libertäre Unholde wie den Marquis de Sade, die der Natur mit frivolen Fingern aus dem Korsett der Moral heraushelfen. Sloterdijk nennt dies in seiner Vorlesung Was geschah im 20. Jahrhundert? "das Erzielen neuer, freierer, ungehemmter Ausdrucksgestalten".

Es kann kein Zweifel bestehen, dass sich der Anthropologe und Entlastungsexperte vor einem solchen Schauspiel mit Grausen abwendet. Sloterdijks erstaunliches Lob der "Grenze" ist als Reflex zu lesen. Gemeint ist nicht so sehr die Abwehr von Flüchtlingen. Das Denken des Ideenvirtuosen richtet sich gegen die Überschreitung als solche. Hinter Sloterdijks Arbeit am Begriff verbirgt sich ein naheliegender Impuls: Alles möge nicht nur mit Blick auf die EU-Nationalstaaten so bleiben, wie es ist. Peter Sloterdijk wäre das sehr recht. Wer könnte sonst mit besorgter öffentlicher Miene von "Überrollung" sprechen? (Ronald Pohl, 30.3.2016)