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Hooligans stürmten am Sonntag den Brüsseler Börsenplatz, wo der Opfer der Terroranschläge gedacht wurde. Die Polizei setzte Wasserwerfer ein.

Foto: REUTERS/Yves Herman

Nach den Anschlägen von Paris am 13. November waren Schock und Entsetzen groß, und allseits forderte und gelobte man ein hartes und unnachgiebiges Vorgehen gegen die Urheber. Wäre die Tragik des Brüsseler Terrors nicht so entsetzlich, wäre man versucht zu sagen: "Fool me once, shame on you! Fool me twice, shame on me!"

Ich schrieb nach Paris in einem Kommentar, dass eine Verknüpfung der Terror- und der Flüchtlingsdebatten unzulässig sei. Gemeint war natürlich der tendenziöse und vielerorts, vor allem seitens der Zäunebauer auch hierzulande unternommene Versuch, die humanitäre Krise auf die sicherheitspolitischen Aspekte zu reduzieren und für nationalistische oder parteipolitische Zwecke auszunutzen. Niemand, der bei klarem Verstand ist, kann ein Terrorversteher sein. Die Dringlichkeit, unschuldige Menschen, wo auch immer, vor der Heimtücke der Besessenen zu beschützen und grausame Verbrechen nach Kräften zu verhindern oder die Täter zur Verantwortung zu ziehen, soll an keiner Stelle in Zweifel gezogen werden.

Gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur

Europa darf keine Schwäche zeigen und muss sich mit den notwendigen Instrumenten ausstatten, um solche Attacken, wie sie Europa am 22. März in sein Brüsseler Herz trafen, mit allen zu Gebote stehenden Mitteln bekämpfen zu können. Ohne die jüngsten Opfer in Lahore und an anderen Orten der Region zu vergessen, so braucht doch Europa nach zwei verheerenden, aber aus Sicht der Gotteskrieger wohl höchst erfolgreichen, Anschlägen inmitten des Kontinents zunächst eine stärkere Zusammenarbeit und eine Konsolidierung der Sicherheitsapparate zum Schutz der eigenen Bürger.

Eine gemeinsame und integrierte europäische Sicherheitsarchitektur ist mittelfristig so unausweichlich wie ein entschlossenes Vorgehen gegen die Parallelgesellschaften. Gerade gegen ersteres wehren sich aber vor allem die Mitgliedsländer, weil Sicherheit eine Kernfunktion von Staatlichkeit ist und eine Vergemeinschaftung derselben ihrer Auffassung nach mit einem zumindest symbolischen Souveränitätsverlust einhergeht. Was aber diese Souveränität im Angesicht neuer Bedrohungen wert ist, haben uns erneut die Terrorakte mit kaum zu überbietender Deutlichkeit vor Augen geführt. Was wir in Paris und Brüssel erlebten, ist teils auch den nationalstaatlichen Widerständen gegen integrierte Strukturen für eine engere und zielgerichtete polizeiliche und nachrichtendienstliche Vernetzung zuzuschreiben.

Gerechtigkeit und Gleichberechtigung

Ein anderes Thema sind die tieferliegenden Ursachen der Radikalisierung: Hinter Fundamentalismus und Terror verbirgt sich dasselbe verdrängte, weil ungelöste Problem, das auch Angst und Ressentiment gegenüber den Flüchtlingen schürt. Aus zum Teil berechtigten Gründen fürchten wir den Rückschritt in ein prämodernes Weltbild, das etwa die Rechte von Frauen einschränken will sowie die Freiheit sexueller oder religiöser Orientierung verneint.

Dass gerade in diesen Bereichen unsere Haltung nach unten keinen Verhandlungsspielraum hat, errungene Freiheiten und Rechte als nicht revidierbar gelten müssen, ist klar. Ebenso klar ist, dass geltende Regeln und Gesetze einzuhalten und daher Vorfälle wie in der Kölner Silvesternacht völlig inakzeptabel sind. Gleichzeitig muss darauf geachtet werden, dass wir unsere eigenen Standards, was etwa das Geschlechterverhältnis und Sexismus im Alltag anbelangt, respektieren, um hier gerechterweise Integration und Anpassung gemäß unserem eigenen Vorbild verlangen können. Gewalt gegen Frauen und Formen struktureller Ungleichbehandlung gibt es auch in europäischen Gesellschaften nicht zu knapp.

Im Innersten ist das europäische Projekt oder die Aspiration, welche die Gesellschaften in Europa seit Jahrhunderten vorantreibt, die der Gerechtigkeit und der Gleichberechtigung unter den Bürgern. Wir sind zwar in kapitalistischen Systemen bisweilen weit von tatsächlicher Gleichheit entfernt, aber der Anspruch, dass jeder und jede im Prinzip die gleichen Chancen bekommen sollte, ist aufrecht – und kann eingefordert beziehungsweise im Ganzen regelmäßig demokratisch neu ausgehandelt werden. Nichts ist dem fundamentalistisch-islamistischen Weltbild fremder als das, denn wer sich nicht zum Islam als dem rechten Glauben bekennt, verliert den grundlegendsten Rechtsanspruch und in letzter Konsequenz die eigene Daseinsberechtigung.

Reden über Werte und Glaubensfragen

Europa hat sich in zum Teil schmerzvollen Prozessen vom Diktat des Transzendenten und der Unterdrückung im Namen Gottes befreit. Wir haben uns formell und auch real aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, wie Kant diesen unaufgeklärten Zustand genannt hatte, emanzipiert. Und spätestens hundert Jahre nach Nietzsches Theozid war die ungebremste Nutzenmaximierung und Kapitalakkumulation schließlich zur zumindest impliziten Religion des Westens geworden, dogmatisch unterfüttert von einem absolutistisch-positivistischen Welt- und Wissenschaftsverständnis von nahezu theologischem Rang.

In diesem geistigen Klima verbittet es sich, über Religion, Spiritualität und Sinnfragen zu sprechen. Solcherlei gilt weithin als überholt und/oder peinlich. Doch gerade deswegen blühen und wuchern in unseren postmodernen Gesellschaften Esoterik und Fantasy als Ersatzreligionen für jene, die sich mit dem Exklusivrationalismus, dem Fortschrittsglauben und der Technologiehörigkeit nicht abfinden wollen oder können. Auf der anderen Seite müssen aber die gänzliche Verleugnung jeder Art von traditioneller Religion und die Geringschätzung, die wir den Gläubigen in Form von unterschwelliger Herabwürdigung wegen Mangels an Intelligenz und Vernunft entgegenbringen, als beständige narzisstische Kränkung ebendieser Gläubigen empfunden werden. Die westliche Halt-, Ziel- und Maßlosigkeit samt ihrem neoliberalen Credo der Selbstvergötzung hat dem wenig entgegenzusetzen und leider nur dürftige Antworten auf die Frage, wie denn das Zusammenleben in Großgruppen am besten zu organisieren sei, zu bieten.

Wie "gelingt" Gemeinschaft?

Was nicht auf ein Selfie passt, hat, scheint's, keinen Platz in unseren Betrachtungen und Abwägungen. Dabei ist die Auseinandersetzung mit der Gretchenfrage, wie denn ein "gutes" oder "gelungenes" Leben zu führen sei, gerade hierfür alles andere als nebensächlich. Freilich ist die Beantwortung dieser Frage letztlich eine Privatsache. Dennoch muss auch und gerade sie öffentlich verhandelbar sein – zumindest wenn es um die Grenzen und Konflikte zwischen den unterschiedlichen Auffassungen darüber geht.

Das heißt, es darf nicht als rückständig gelten und vernachlässigt oder marginalisiert werden, über gemeinschaftliche Werte und auch Glaubensfragen zu reden. Das Ausblenden dieser Themen und das Offenlassen dieser Fragen erzeugen ein Vakuum, das bereitwillig jene füllen, die schon mit ihren gefährlichen Simplifikationen, Gut-Böse-Dichotomien oder mit demokratiefeindlichen Absolutheitsansprüchen bereitstehen. Es bedeutet umgekehrt aber auch, dass wir ein pseudopluralistisches Nebeneinander von offener Gesellschaft und wie auch immer gearteter Radikalisierung in Terror- oder Fundamentalismus-Biotopen – wofür in der gegenwärtigen Debatte allzu oft Molenbeek als Beispiel herhalten muss – nicht mehr dulden können. Wir müssen für Transparenz und Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Milieus sorgen und notfalls mit Autorität den Respekt unserer Grundnormen einfordern.

Leitbild der EU-Außenpolitik

Erschwerend kommt hinzu, dass auch in Europa ein aufgeklärtes, humanistisches Weltbild, dem die Universalität der Menschenrechte, Freiheit und Demokratie, Solidarität, Mitgefühl und Toleranz als Werte zugrunde liegen, weniger verbreitet ist, als man hoffen möchte. Was die EU und ihre Mitgliedsstaaten der Welt mitunter angetan haben und noch immer antun, ist keineswegs bis ins Letzte vertretbar, siehe Waffenexporte, unfaire Handelsregimes und der verbrecherische Raubtierfinanzkapitalismus, kurzsichtiges Verfolgen von Eigeninteressen – seien es Ressourcen oder Märkte, Stützung von Despoten, Unterlassungssünden in der Entwicklungspolitik et cetera. Um sowohl den Terror nachhaltig zu bekämpfen als auch an den Ursachen der Flucht zu arbeiten, muss Europa seine Grundwerte wie Gerechtigkeit und Menschenwürde auch zum durchgängigen Leitbild seiner Außenpolitik machen. Wir sind davon noch meilenweit entfernt.

Die Teilnahme an oder sogar die Initiative zu Kriegen in Afghanistan, dem Irak und Libyen hat die Courage, dort einzugreifen, und die Glaubwürdigkeit, in den Konflikten zu vermitteln, wo es bitter notgetan hätte, nämlich in Syrien, auf circa null schrumpfen lassen. Wir richten so gut wie nichts aus in der südlichen oder der östlichen Nachbarschaft und haben uns indes offenbar auch sonst von aller Ambition verabschiedet. Viel zu lange haben wir uns im Fahrwasser einer im Grunde verfehlten Außenpolitik der Vereinigten Staaten zumeist ohne eigene Linie in diese Bredouille bringen lassen.

Wegschauen – auch in der Flüchtlingsfrage

Dieselbe Visionslosigkeit hat uns auch in der Flüchtlingsfrage die jetzige Situation beschert: Weil wir es allzu lange vermieden haben, uns dem enormen Problem von Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, um ihr Leben zu retten, zu stellen, hat es zu diesem unkontrollierten Zustrom nach Europa erst kommen können. Wir hatten jahrelang die Chance ungenützt gelassen, denen beherzt und gezielt vor Ort zu helfen oder diejenigen in Sicherheit zu bringen, die es am nötigsten gehabt hätten: Kinder, deren Mütter und Väter, Kranke und Alte. Stattdessen wollten wir von beherztem Handeln nichts wissen und haben lieber die sich ankündigende humanitäre Katastrophe so lange ausgeblendet, bis sich letztlich der Treck nach Europa in Bewegung gesetzt hatte.

Das Resultat unseres Wegschauens ist, dass die Verletzlichsten, wenn sie nicht umgekommen sind, noch stets in Gefahr oder in menschenunwürdigen Bedingungen festsitzen. Dagegen sind weit mehr als die Hälfte der Ankommenden junge, alleinstehende Männer, die sich meist selbst etwas besser zu wehren und zu versorgen wissen als Schwache und Kranke oder Mütter mit Kleinkindern. Auch wenn die unlängst vom Europol-Chef verbreitete, aus welchen Quellen auch immer stammende Schätzung, wonach mit den Flüchtlingen etwa 5.000 mutmaßliche oder potenzielle (der Unterschied scheint derzeit überhaupt nicht so ernst genommen zu werden, wie er sollte!) Terroristen zu uns gekommen seien, wahrscheinlich Unfug ist, muss man doch kein Hellseher sein, um zu wissen, wozu eine solch einseitige Zusammensetzung der Asylsuchenden führt: Dass nämlich junge Männer, nachgerade die ohne Beruf, familiäres Netz und ohne tragende Lebensperspektiven, häufiger als andere Bevölkerungssegmente zu sozial schwierigem Verhalten neigen, könnten wir mit einem Blick auf unsere eigenen gesellschaftlichen Pathologien ganz leicht vorhergesehen haben.

Die Zukunft Europas

Apropos Problemgruppen, Perspektiven und Gerechtigkeit: Europa muss auch – und zwar sehr schnell – verstehen, dass Menschen, die sukzessive benachteiligt und im fernen Abseits von Chancengleichheit jeder Aufstiegsperspektive beraubt sind, sich um europäische Werte oder die Errungenschaften des inneren Marktes genau gar nicht kümmern; im Gegenteil, sie werden diese für sie leeren Versprechungen als Verhöhnung empfinden. Dass diese Menschen andere, die noch schlechter dran sind und eventuell akuteres Anrecht auf Unterstützung haben als sie selbst, als latente oder offene Bedrohung wahrnehmen. Diesem Dynamitgemisch müssen wir dringend begegnen, denn genau hier an diesem unteren Rand, wo sich Überleben in seinem existenziellen Wortsinn täglich zuträgt und den die Staats- und Regierungschefs geflissentlich übersehen, hier entscheidet sich die Zukunft Europas.

Und nur um sicherzugehen, dass dieser Punkt nicht missverstanden wird: Die Antwort auf dieses Dilemma ist nicht, die Randdynamik nach rechts zu verstärken und die bestehenden Ängste zu schüren, sondern diesen Ängsten entschlossen entgegenzutreten, und zwar mit klaren Worten und, noch wichtiger, mit lösungsorientiertem Handeln – mit einer Politik, die mehr Fairness, mehr Chancen und mehr Gleichheit ermöglicht, die nicht schulterzuckend dabei zusieht, wie falsche Umverteilungsmechanismen zu immer desaströseren Ungleichheiten führen. Beleg gefällig? Am Ostersonntag haben anstelle der abgesagten Friedensdemonstration in Brüssel mehrere hundert Hooligans und Rechtsradikale mit Parolen und Ausschreitungen für Unruhe gesorgt, ein für das ansonsten eher gemäßigte Belgien bedenklicher Aufmarsch. (Thomas Henökl, 30.3.2016)