Auf den rechten Fleck konzentriert: Das menschliche Herz ist in seiner Funktion hochkomplex. Trotzdem gelingt es Wissenschaftern, seine Leistung virtuell abzubilden.

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Die Pumpe als Rechenmodell erleichtert Chirurgen die OP-Vorbereitung.

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Was für Piloten selbstverständlich ist – Übungsstunden im Flugsimulator –, könnte auch Medizinern helfen: Wissenschafter arbeiten daran, das menschliche Herz bis ins kleinste Detail am Computer nachzubauen. Ihr Ziel: ein lebensechtes, schlagendes Organ am Bildschirm. Ärzte sollen so Medikamente und Operationstechniken testen und damit eine optimale Therapie ermitteln.

"Die Suche nach einer geeigneten Therapie folgt in der Medizin häufig dem Trial-and-Error-Prinzip. Man weiß erst hinterher, welche Therapie am besten wirkt. Unser Motto lautet hingegen: 'First time right'", sagt Olaf Dössel, Direktor des Instituts für biomedizinische Technik am Karlsruher Institut für Technologie, "unser Modell soll den Erfolg einer Therapie vorhersagen können."

Rund drei Milliarden Mal schlägt ein menschliches Herz im Laufe eines Lebens. Pro Minute pumpt es zwischen fünf und 40 Litern – je nach Belastung – durch den Körper. Doch je älter wir werden, desto größer ist das Risiko einer Herzkrankheit: Mal verengen sich die Gefäße, mal verstopfen sie, mal gerät das Herz aus dem Takt.

Vorhofflimmern weit verbreitet

Dössel und sein Team arbeiten seit Jahren an der Modellierung des Herzes und haben sich dabei auf Infarkte und Herzrhythmusstörungen spezialisiert. Das sogenannte Vorhofflimmern ist dabei die am weitesten verbreitete Arrhythmie, bei der das Herz unregelmäßig schlägt.

Die elektrischen Impulse, die für die Pumpbewegung sorgen, entstehen nicht nur im sogenannten Sinusknoten, dem eigentlichen Taktgeber des Herzens, sondern auch an anderen Orten im Herz. Helfen Medikamente nicht, muss mit einer Sonde eingegriffen werden: Kardiologen versuchen die Orte, wo die elektrischen Störsignale entstehen, zu veröden, indem sie das Gewebe erhitzen.

Auf diese Weise unterbricht man die falsche Stromleitung und stellt den normalen Herzrhythmus wieder her. "Bei vier von zehn Patienten kommt die Rhythmusstörung aber wieder", sagt Dössel, der mit seinem Modell schon vor der OP herausfinden möchte, wo man die Narben setzen muss, damit der Erfolg von Dauer ist.

Die mathematische Simulation des menschlichen Herzes ist eine gewaltige Herausforderung: vier Kammern, vier Klappen, die Zu- und Abflüsse sowie die Herzkranzgefäße – allein die Anatomie des Organs ist hochkomplex.

Fortschritt durch Bildgebung

Die Entwicklung der Computermodelle ist dem Fortschritt in der Bildgebung zu verdanken: Erst die Bilder von Computertomografie (CT) und Magnetresonanztomografie (MRT) machten den Aufbau des Herzes hochpräzise sichtbar und in die Berechnung eines virtuellen Durchschnittsherzes fließen die Bilder tausender Patienten.

Zum komplizierten Aufbau kommt hinzu, dass das Herz niemals stillsteht. Wegen der Pumpbewegung sprechen Experten auch von einem 4-D-Modell. "Allein das Berechnen des Herzschlags, die Weiterleitung der elektrischen Impulse, kostet enorme Rechenleistungen", sagt Gernot Plank von der Universität Graz, der seit mehr als zehn Jahren an der Computersimulation des Herzes arbeitet. Etwa zwei Stunden rechne ein Supercomputer, dessen Leistung der von 2.000 Desktopcomputern entspricht.

Der nächste Schritt – die Entwicklung personalisierter Herzmodelle – ist in Arbeit. Die Wissenschafter verwandeln hierfür das virtuelle Durchschnittsherz in ein virtuelles Patientenherz, in das alle Daten, die durch EKG, Katheter, CT, MRT und Ultraschall gewonnen wurden, einfließen. Das Ziel: Am Ende muss das Patientenherz am Bildschirm schlagen – mit all seinen individuellen Eigenschaften wie undichten Klappen, verstopften Gefäßen und Herzrhythmusstörungen. "Ist das Modell gut, können wir berechnen, was der Herzinfarkt bei Patient X für Folgen hat oder wie sein Herz auf Behandlung reagiert", sagt Dössel.

Simulieren statt probieren

"Ein solches Modell dient außerdem dazu, diejenigen Patienten auszuwählen, die von einer bestimmten Therapie profitieren", sagt Plank. So helfe ein Herzschrittmacher sieben von zehn Patienten. Den übrigen drei Patienten nicht – trotz aufwendiger Operation und Kosten von 30.000 Euro.

Die Forscheraktivität rund ums digitale Modellieren ist vielfältig: Während manche Arbeitsgruppen das gesamte Herz nachstellen, spezialisieren sich andere auf Teilausschnitte. Dominik Obrist vom Artorg Center der Uni Bern entwickelt Modelle, die Blutgefäße und Herzklappen darstellen: "Solche Computermodelle sind eine Ergänzung zu existierenden Techniken. Das Ziel ist auch die Objektivierung der Diagnose. Oft hängt diese stark von den Kenntnissen des Arztes ab – dieser schaut sich ein CT-Bild oder ein EKG an und interpretiert die Ergebnisse. Ein Computermodell berechnet zusätzliche Parameter, etwa den Blutdurchfluss."

Während vieles noch Grundlagenforschung ist, existieren schon erste Anwendungen: Ersetzen Chirurgen eine Herzklappe, hilft ihnen ein Computermodell, die richtige Größe und Form auszuwählen. Auch wenn ein Herzkranzgefäß verengt ist und durch einen Stent (zylindrisches Metallgitter, Anm.) erweitert und stabilisiert werden muss, erhalten Kardiologen digitale Hilfe. Der ideale Ort für den Stent wird ausgerechnet.

Kunstherzen und Pumpen

Auch die Forschergruppe der Med-Uni Wien und des Ludwig-Boltzmann-Clusters für kardiovaskuläre Forschung setzt Computermodelle ein. Die Arbeitsgruppe ist seit Jahrzehnten führend auf dem Gebiet der Kunstherze und der herzunterstützenden Pumpen, auf die Patienten mit starker Herzinsuffizienz angewiesen sind: Aufgrund eines Herzinfarkts oder einer Herzmuskelentzündung hat deren Herz an Pumpkraft verloren.

Im fortgeschrittenen Stadium leiden Patienten selbst bei langsamem Gehen unter Erschöpfung und Atemlosigkeit. Oft hilft dann nur eine mechanische Unterstützung des Herzes durch eine Pumpe, die direkt in die linke Herzkammer eingepflanzt wird.

"Bei unseren Computermodellen gilt: So komplex wie nötig, so einfach wie möglich", erklärt der technische Leiter des Wiener Kunstherzprogramms, Heinrich Schima. Gemeinsam mit seinem Kollegen Francesco Moscato stellt er die Wechselwirkungen zwischen dem Herz und der Pumpe und den Einfluss auf den Blutkreislauf am Computer dar und versucht sie aufeinander abzustimmen. "Wir testen auch Extremsituationen, etwa: Wie reagiert die Pumpe, wenn ein Patient starke Herzrhythmusstörungen hat oder körperlich aktiv ist?", erklärt Moscato.

Eine dauerhafte Alternative

Früher wurden solche Pumpen nur vorübergehend eingesetzt. Sie sollten die Zeit bis zur Transplantation überbrücken. "Heute entwickeln sich die Pumpen dank der immer feineren Abstimmung aber zunehmend zu einer dauerhaften Alternative", sagt Schima. In Wien seien momentan 75 Personen mit einer solchen herzunterstützenden Pumpe ausgerüstet.

Zu guter Letzt interessiert sich auch die Pharmaindustrie für Computermodelle des Herzes: Neue Medikamente könnten sich so kostensparend testen lassen. Viele Substanzen lösen Nebenwirkungen aus, die das Herz betreffen. In Japan wurden kürzlich zwölf Medikamente in verschiedenen Dosierungen an einem programmierten Herzmodell getestet. Die Ergebnisse stimmten mit den üblichen Untersuchungen überein. Kein Wunder also, dass Siemens, IBM, und Medtronic in die Entwicklung solcher Herzmodelle investieren.

Obwohl die Kosten solcher Untersuchungen hoch sind, hoffen Experten langfristig auf Kostenersparnisse: Patienten würden sofort die optimale Therapie erhalten, und weitere Klinikaufenthalte entfallen. Weswegen im Übrigen nicht nur das Herz digital nachgebaut wird: Auch Niere, Leber, Blutkreislauf und sogar das Gehirn sollen am Bildschirm eines Tages zum Leben erwachen. (Juliette Irmer, CURE, 2.6.2016)