In Zeiten immer extremer polarisierender Diskussionen tut es gut, kurz Luft zu holen und sich ein paar Selbstverständlichkeiten in Erinnerung zu rufen: Wer etwas gegen Kopfläuse unternimmt, ist kein Tierquäler. Wer sich über Wladimir Putin empört, ist kein Feind Russlands. Wer die skandalösen Zustände in Wiener islamischen Kindergärten sowie Antisemitismus und Frauenverachtung nicht achselzuckend hinnehmen will, ist nicht islamophob. Wer eine nahezu ausschließlich auf die Hervorbringung von Neid, Hass und Unmenschlichkeit basierende Politik als ekelhaft empfindet, ist kein Volksverräter.

Und wer das geplante Freihandelsabkommen TTIP in seiner jetzigen Form für inakzeptabel hält, ist kein antiamerikanischer, links-utopistischer Populismus-Büttel der Kronen Zeitung. Sondern jemand, der im Sinne Karl Poppers unsere offene Gesellschaft gegen einen feindlichen Angriff verteidigen möchte.

Dieser Angriff zielt unter anderem auf eine Grundvereinbarung der Demokratie, nämlich die Gleichheit vor dem Gesetz. Unter dem Schlagwort "Investorenschutz" soll es möglich sein, sich der staatlichen Rechtsprechung nicht nur zu entziehen, sondern sie auch gleich durch eine von "internationalen Schiedsgerichten" oder einem Gerichtshof der Welthandelsorganisation WTO repräsentierte Paralleljustiz zu ersetzen. Das geht freilich nur dann, wenn man die finanziellen Möglichkeiten eines großen Konzerns hat.

Der dank Schiedsgerichten zu seinem Recht kommende Mittelständler ist ein Propaganda-Phantom. 93 Prozent der Unternehmen, die in den vergangenen Jahren von Schiedsgerichten Schadenersatz zugesprochen bekamen, haben einen Jahresumsatz von über einer Milliarde Euro, 64 Prozent dürfen sich über mehr als zehn Milliarden pro Jahr freuen.

Noch besorgniserregender als diese Kommerzialisierung der Rechtsprechung ist eine ihrer Nebenwirkungen, die "governmental freeze" genannt wird. Damit wird das durch bloße Klagsandrohung eines Konzerns ausgelöste "Einfrieren" von Regierungstätigkeiten beschrieben, das vor allem ärmere Staaten davon abhält, Gesetze zum Umwelt- oder Gesundheitsschutz zu erlassen. Die staatliche Souveränität wird also durch die Umgehung ihrer Gerichtsbarkeit in ihrer Gesamtheit unterwandert. Ein Effekt, der auch institutionalisiert im TTIP-Kapitel zur "regulatorischen Kooperation" dafür sorgen soll, dass Gesetze, die Investoren nicht passen könnten, erst gar nicht beschlossen werden.

Perfiderweise tarnen sich diese Attacken auf die gesellschaftliche Freiheit hinter dem Begriff "Liberalismus". "Wer Liberalismus allein zu Legitimierung von Steuervermeidung und Steuerflucht nutzt, missbraucht den Begriff", schreibt Nils Minkmar im vorwöchigen Spiegel zu Recht. Eine Einschätzung, die daran erinnert, dass immer mehr Konzerne sogar das neoliberale Credo "Wer zahlt, schafft an" widerlegen, indem sie nur mehr anschaffen und nichts mehr zahlen wollen. Rund 70 Milliarden Euro haben sie den EU-Staaten allein im Vorjahr durch diverse Steuertricks entzogen.

Wer das in Ordnung findet, ist kein Liberaler. Und wer TTIP für Liberalismus hält, glaubt, dass ein Platzsturm den Höhepunkt eines Fußballspiels darstellt. (Florian Scheuba, 23.3.2016)