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Salah Abdeslam wurde am Freitag in Molenbeek bei Brüssel von der Polizei bei einem Schusswechsel verhaftet. Dabei erlitt er offenbar eine Beinverletzung. Insgesamt wurden bei der Razzia fünf Personen verhaftet.

Die belgischen und französischen Fahnder waren bei ihren diversen Hausdurchsuchungen am Dienstagabend unter anderem auf Abdeslams Fingerabdrücke gestoßen. Der 26-jährige Franko-Marokkaner wird der Teilnahme an den Pariser Anschlägen vom 13. November verdächtigt; seither war er untergetaucht.

Meistgesuchter Mann Europas

Abdeslam war der meistgesuchte Mann Europas. Seine Spur fand sich beim Stade de France und danach bei einzelnen Pariser Bistroterrassen, wo insgesamt 130 Menschen ums Leben gekommen und 500 verletzt worden waren. Erwiesen ist bisher, dass er im Vorfeld Zeitzünder kaufte und einen schwarzen Renault Clio mietete, mit dem er die Attentäter an ihre Pariser Einsatzorte fuhr. Ein Sprengstoffgürtel, den die Polizei Tage später in einem öffentlichen Abfallkorb in Paris-Montrouge fand, soll Abdeslam gehört haben.

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Spezialeinheiten der Polizei in Molenbeek.
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Abdeslam war 1989 in Brüssel als Sohn marokkanischer Eltern auf die Welt gekommen und arbeitete zuerst bei den städtischen Verkehrsbetrieben; den Job verlor er wegen eines Einbruchdiebstahls. In Molenbeek führte er danach eine Bar, wo Drogen umgeschlagen wurden. Mit seinem Bruder Brahim geriet er in radikalislamistische Kreise. Das Brüderpaar versuchte vergeblich, auch Bruder Mohamed in ihre Jihad-Pläne zu ziehen, und reiste gemeinsam nach Syrien. Von dort kehrten die beiden im Oktober 2015 als Flüchtlinge getarnt und mit falschen Pässen via Griechenland nach Belgien und Frankreich zurück. Einen Monat später lancierten sie mit mehreren Kommandos die Pariser Anschläge, bei denen Brahim ums Leben kam. Abdeslam floh nach Brüssel, wo sich seine Spur fürs Erste verlor. Im November wurde das Hirn des Kommandos, Abdelhamid Abaaoud, in Saint-Denis im Norden von Paris in einer Absteige gestellt und zusammen mit Komplizen von der Polizei erschossen.

Sein Schulfreund Abdeslam leistete nach bisherigen Erkenntnissen nur logistische Hilfe. Er wurde von Augenzeugen der Pariser Attentate formell identifiziert. Gegenüber Bekannten soll sich Abdeslam gerühmt haben, er habe mit einer Kalaschnikow selbst Bistrobesucher erschossen.

Szenen der Festnahmen

Trotz der möglicherweise untergeordneten Rolle Abdeslams am 13. November ist seine Festnahme für Frankreich von symbolischer Bedeutung. Bereits in Brüssel anwesend, verfolgte Präsident François Hollande die Polizeioperation mit insgesamt fünf Festnahmen im Büro des belgischen Premiers Charles Michel.

In Paris drückten Politiker aller Lager ihre Erleichterung über die Festnahme aus. Damit werde doch noch eine juristische Aufarbeitung der Attentate möglich, meinten sie. In Paris wird mit einer raschen Auslieferung Abdeslams gerechnet, da er auch französischer Staatsbürger ist. Angehörige der Todesopfer erklärten ihrerseits, der Prozess Abdeslams werde die nötige Trauerarbeit erlauben. Die Mutter eines im Bataclan erschossenen Jugendlichen fragte kritisch an, warum die Polizei den Gesuchten nicht schon im Sommer 2015 dingfest gemacht habe.

Enstpannung

Politisch könnte die Verhaftung Abdeslams in Frankreich eine gewisse Entspannung bewirken. Seit vier Monaten herrscht im Land ein erdrückender Ausnahmezustand. Die französische Regierung will das noch bis Mai geltende Notrecht allerdings in einen gesetzlichen Rahmen überführen. Nicht mehr die Polizeipräfekten, sondern nur noch Staatsanwälte sollen in Zukunft Hausdurchsuchungen anordnen können. Seit den Pariser Anschlägen hat die Polizei mehr als 3.000 Razzien vorgenommen, ohne dass diese einer richterlichen Kontrolle unterlagen.

Diese Woche ist zudem klar geworden, dass François Hollande sein umstrittenes Ansinnen, Terroristen und anderen Schwerverbrechern die französische Staatsbürgerschaft zu entziehen, vermutlich fallenlassen muss. Der konservative Senat lehnte ein entsprechendes Gesuch der sozialistisch dominierten Nationalversammlung ab. Die von Hollande angestrebte Dreifünftelmehrheit für die nötige Verfassungsrevision scheint damit illusorisch. Hollande scheint fast erleichtert zu sein, dass sein – vom Front National abgekupfertes Projekt – keine Chancen mehr hat. Generell kommt damit die Justiz gegenüber der Politik und Polizei langsam wieder zu ihrem Recht. Diese Entwicklung wird durch Abdeslams Festnahme noch unterstrichen.

"Banlieue-Jihadisten"

Sozialpolitisch ist in Frankreich allerdings nichts geregelt. Abdeslams Werdegang ist geradezu typisch für das Abdriften hunderter sogenannter "Banlieue-Jihadisten" von Marseille über Paris bis nach Brüssel. Laut Pariser Zeitungen haben die französischen Behörden im Februar 8.250 "radikalisierte" Islamisten gezählt. Erschreckend an dieser Zahl ist, dass sie im März 2015 erst 4.015 betragen hatte und sich damit seither verdoppelt hat. Die Polizei und die Geheimdienste vermögen mit dieser Entwicklung kaum mehr Schritt zu halten, auch wenn ihre Bestände nach den Charlie-Hebdo-Anschlägen anfangs 2015 massiv aufgestockt wurden.

Die Regierung in Paris versucht zwar, die Anwerbung neuer Attentäter über Internet auf diverse Weise zu unterbinden. Außerdem richtete sie mehrere "Deradikalisierungszentren" ein. Diese können aber ab diesem Sommer im besten Fall ein paar Dutzend gefährdete Jugendliche aufnehmen – ein Tropfen auf den heißen Stein. Abdeslam ist zwar unschädlich gemacht – die IS-Drahtzieher in Syrien haben aber in der Zwischenzeit sicherlich weitere willige Vollstrecker ihrer Pläne gefunden. (Stefan Brändle, 18.3.2016)