Mitten ins Zeitalter medialer Selbstdarstellung und -vervielfachung hat Thomas Glavinic einen Roman geschrieben, der darauf beharrt, dass wir immer schon, auch ohne Web 2.0, mehrere Leben geführt haben: in der Fantasie, der Erinnerung, der Erzählung. Zuweilen überwiegt im Roman die Kurzsteckenphilosophie.

Foto: Gaby Gerster

Die Hamburger Rinke-Stiftung fördert seit einigen Jahren die Form des Autorentagebuchs. Clemens Meyer, Patricia Görg und Gregor Sander haben dafür bisher jeweils ein Kalenderjahr in literarische Protokolle gefasst, Stipendiat des Jahres 2015 war Thomas Glavinic. Das Ergebnis ist der 750 Seiten starke Roman Der Jonas-Komplex.

Glavinic steht für eine Literatur, die sich recht unverblümt den sogenannten großen Fragen widmet. Zum Abschluss seiner Jonas-Trilogie etwa (Das größere Wunder, 2013) bezwang ein existenziell getriebener Held den Mount Everest, um dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen. Kritiker bezeichneten das – bei gewissen Großspurigkeiten in der Ausführung – als gelungenes Märchen.

Die Form des Autorentagebuchs wird bei Glavinic deutlich überschritten. Tagebuch ist ein solches ohnehin nur bis zu einem gewissen Grad, ungeniert kann dort Fiktives neben Tatsächliches gestellt und zwischen verschiedenen literarischen Masken gewechselt werden. All das tut Glavinic und setzt noch eines drauf, indem er nicht ein Jahr, sondern gleich drei Jahre parallel erzählt; Jahre, in denen auch noch ganz unterschiedliche Größenverhältnisse herrschen. Da wären erstens die Aufzeichnungen eines Wiener Autors im Jahr 2015, der allen möglichen Ähnlichkeiten zum Trotz natürlich mit dem realen Thomas Glavinic nicht verwechselt werden sollte (wie in Das bin doch ich von 2007 ist die Authentizität hier eine fingierte). Er ist ein sympathischer, etwas überforderter Kerl, der sein Kind liebt und seiner Exfrau ehrlich dankbar ist; zugleich laboriert er an einem massiven Kokain- und Alkoholproblem, legt dementsprechende Auftritte im Literaturbetrieb hin und hat einigermaßen suizidale Anwandlungen bei der Auswahl seiner Sexualkontakte.

Ansonsten hängt er gerne seinen Gedanken nach, je nach Anlass ist er dabei tiefsinnig, väterlich, lebensklug oder erschüttert, Letzteres etwa angesichts der Medienberichterstattung – hier spiegelt sich mit den Anschlägen von Paris, der Flüchtlingskatastrophe und Ähnlichem das Jahr 2015.

Dazu gesellen sich nun noch zwei weitere Handlungsstränge: Im Jahr 1985, also 30 Jahre früher, findet das Coming of Age eines jungen Schachspielers in prekären und unklaren familiären Verhältnissen statt. Der Dreizehnjährige lebt bei einer promiskuitiven Alkoholikerin, die ihn halbherzig versorgt, sexuell bedrängt und von der man nie erfährt, ob sie nicht vielleicht seine Mutter ist.

Jonas als Held des dritten Handlungsstrangs wiederum (bei der 2013 beendeten Trilogie blieb es also nicht) verbringt nach seiner erfolgreichen Besteigung des Everest ein Jahr mit Selbstfindungstrips (einsame Insel, hoher Fels, Gefängniszelle usw.). Seine große Liebe, Marie, blieb ihm aus dem Vorgängerroman erhalten, und weil auch sie sich gerne selbst finden will, bezwingen sie am Schluss gemeinsam den Südpol.

Unterschiedlicher könnten die drei hier ablaufenden Jahre nicht sein. Miteinander zu tun haben sie dennoch, und zwar indem sie sich zahllose Motive teilen: einen Hang der Figuren zum Tiefgründigen beispielsweise, den Glauben an Gespenster, raue Männerfreundschaften, außergewöhnliche Begabungen und so weiter.

Wo die Motive sich nicht gerade entsprechen, ergänzen sie einander, führt eines das andere fort. Während der Dreizehnjährige unglücklich in eine gewisse "M." verschossen ist, hat Jonas seine geliebte Marie, und während sich Jonas telepathisch mit Verstorbenen unterhält, verschickt der Wiener Autor manisch Kurznachrichten in alle Welt.

Die Tendenz zum Rührseligen

Glavinic hat einen Roman geschrieben, dessen drei Helden wohl ein und derselbe Schwerenöter sind, bloß in unterschiedlichen Registern bzw. Lebensaltern. Die ansonsten recht unproportionierten Handlungsstränge wären also drei Ableitungen desselben Bewusstseins. Mitten ins Zeitalter medialer Selbstdarstellung und -vervielfachung, so könnte man das lesen, hat Glavinic einen Roman gestellt, der darauf beharrt, dass wir immer schon, auch ohne Web 2.0, mehrere Leben zugleich geführt haben: in der Fantasie, der Erinnerung, der Erzählung. Und keines davon wäre nennenswert wirklicher als das andere. (Am Ende wirft der Wiener Autor passenderweise sein Telefon weg und löscht seinen Facebook-Account, um zu schreiben.)

Am Konzept, so viel lässt sich sagen, scheitert dieser Roman nicht (es ist kein "grandioses" Scheitern); sonst aber an allen Ecken und Enden. Regelmäßig und mit großem Aufwand müssen die Handlungsstränge wiederbelebt werden, streckenweise geraten sie zu Aneinanderreihungen folgenloser Eskapaden. Eine kleine Auflösung gegen Ende ist dem Lesepublikum zu diesem Zeitpunkt womöglich längst egal.

In den Dialogen verhungern, aller sichtlichen Anstrengung zum Trotz, die Pointen. An der Stelle von Figurenzeichnung steht das Behaupten von Besonderheit, vor allem auf die Einzigartigkeit der drei Helden im Zentrum legt der Text großen Wert. Als Beleg dafür dienen zahllose Begabungen und Tugenden: Jonas zum Beispiel – nicht nur steinreich, sondern auch Philosoph und Wohltäter; der Dreizehnjährige – belesen, vorzeitig lebenserfahren, ein Genie (hält außerdem die besten Referate aller Zeiten); der Wiener Autor in seinem Lebenslabyrinth – ein Getriebener, aber auch er letztlich ein weiser Mann.

Alle drei zeichnet ein Hang zum Sentenziösen aus. Zu ihren Themen zählen die Kürze des Lebens (die es erst so wertvoll macht), die Ehrlichkeit von Freunden (die einen stärker macht), die Tatsache, dass die Welt dort, wo man gerade nicht ist, trotzdem weiter existiert, und die Erkenntnis, dass alles einmal ganz anders war (was mit dem Vergehen der Zeit zu tun hat). Dass hinter all den Banalitäten mit Tendenz zum Rührseligen tatsächlich das Wunder des Daseins liegt – man muss es wohl einfach glauben. Wären die Coelho-Vergleiche nicht schon anlässlich des letzten Romans gefallen, spätestens jetzt käme man kaum noch darum herum.

Eine Meditation zum Wunder der Kindheit: "Kind sein. Einmal kurz wieder Kind sein. Die Welt mit anderen Augen betrachten. Mit hoffnungsvollen Augen, mit neugierigen Augen, manchmal." Eine Schlussrechnung zu Liebe und Freiheit: "Wünsche machen unfrei. Sie sind zutiefst menschlich. Insofern ist Wunschlosigkeit unmenschlich, und Liebe macht unfrei. Die falsche Liebe jedenfalls. Aber sie ist menschlich. Die richtige Liebe und die falsche Liebe, die innerlich freie Liebe und die unfreie Liebe, beide sind menschlich. Habe ich jemals frei geliebt?" Und so fort.

Hoch im Kurs steht das Irrationale; was diesbezüglich von den stets auskunftsfreudigen Figuren zu erfahren ist (und der Roman bietet kein Korrektiv), summiert sich zu einem konfusen Genie- und Kraftmenschenkult, einer Art vitalistischer Kurzstreckenphilosophie. "Nur Kraft und Wildheit können die Welt retten", weiß hier schon jedes Kind.

Von wegen "Kraft und Wildheit": Was diese wenig überzeugenden grandiosen Gesten einfordern, ist Glaubensstärke; und natürlich eine gewisse Selbstverleugnung beim Drang, das Buch wegzulegen. (Bernhard Oberreither, Album, 19.3.2016)