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Gipfelauftakt in Brüssel: Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.

Foto: REUTERS/Francois Lenoir

Die Balkanroute ist geschlossen. Neue Wege nach Europa entstehen im Gehen. Ob diese jüngste Entwicklung dem Alleingang bestimmter EU-Mitgliedsstaaten geschuldet ist beziehungsweise doch im Einklang mit europäischen Beschlüssen steht, interpretieren sogar europäische Spitzenpolitiker ziemlich unterschiedlich. Wie man in Athen, Wien, Berlin oder in Brüssel darüber denkt, macht jedoch einen gewaltigen Unterschied. Der Standort bestimmt den Standpunkt.

Mehrdeutige Beschlüsse erhöhen die Kompromissbereitschaft und erweitern nationale Interpretationsspielräume. Sie begrenzen aber auch die gemeinsame Handlungsfähigkeit. Das "Ende des Durchwinkens" wurde sicherheitshalber gleich mehrmals schriftlich festgehalten. Das Timing war vielleicht unklar, der Dominoeffekt nimmt damit aber seinen Lauf. Manche beginnen ihre Binnengrenzen zu schließen und Grenzzäune aufzustellen. Andere "stemmen" sich zumindest wortreich dagegen, "profitieren" jedoch letztlich genauso davon. Insgesamt wird die europäische Zusammenarbeit an den Schengengrenzen vorläufig ad acta gelegt.

Nationaler Aktivismus

Dass Problemlösung anders aussieht, ist allen Beteiligten durchaus bewusst. Aber darum geht es derzeit nur bedingt. Jetzt ist einmal nationaler Aktivismus angesagt. Die Sorgen der eigenen Bevölkerung wollen ernst genommen und Ängste kalmiert werden. Oder war es vielleicht ursprünglich doch auch die eigene Handlung, die maßgeblich zur Verunsicherung der Bevölkerung beigetragen hat? Der Zeitpunkt bestimmt eben manchmal die politische Haltung. Außerdem, wer hindert uns daran, klüger zu werden? Es reicht doch vorerst, das Problem zu verschieben und damit aus der nationalen Wirklichkeit zu verdrängen. Die direkte Auseinandersetzung mit Menschen, die auf der Flucht sind, ist gestoppt. Der Flüchtlingsstrom umgeleitet. Die Bilder werden abstrakter und verlieren mit der Zeit an Aufmerksamkeit. Ja, sie sind fürchterlich – aber eben auch weit weg.

Außerdem hat man schon selbst unverhältnismäßig viel geleistet. Jetzt sind endlich einmal die anderen EU-Staaten und -Institutionen gefordert, tätig zu werden. Um die gemeinsame Außengrenze kümmern sich am besten auch gleich jene Länder mit Schengen-Außengrenze. Sie ist ja deren – und nicht mehr unsere – nationale Wirklichkeit.

Europäische Politik?

Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, europäische Lösungen einzufordern und darauf zu hoffen, dass sich andere doch darum kümmern mögen. Die Entwicklung wird beobachtet. Erste Reihe fußfrei. Ein guter Moment, durchaus in strategische Opposition zu europäischen Lösungsversuchen zu gehen und zu betonen, dass doch dieses Europa viel zu schwerfällig und zögerlich agiert. Gibt es keine europäischen Fortschritte, hat man es ja schon immer gewusst und zum Glück rechtzeitig einen Plan B entwickelt und die richtigen Notfallmaßnahmen gesetzt. Gelingt es hingegen, schrittweise und gegen passiven wie aktiven Widerstand doch erste Elemente einer gesamteuropäischen Vorgehensweise auf den Boden zu bringen, war man selbst der Auslöser dieser Kettenreaktion der Vernunft. Europäische Politik? Darum sollten sich doch bitte wirklich die anderen bemühen. Es stimmt schon: Zwischen europäischem Handeln und nationalen Sichtweisen können Welten liegen. (Paul Schmidt, 17.3.2016)