Vom Mountainbiken versteh' ich nichts. Außer: Ich habe davon keine Ahnung. Und weil ich keine Ahnung habe, bleibt das seit Jahren auch so. Schließlich habe ich genug offene Sport-Baustellen, auf denen ich höchstens mittelmäßig vor mich hindilettiere. Muss ich mich da auch noch auf verblockten Trails zum Affen machen, weil ich dort, wo meine Kumpel noch nicht einmal anfangen, von "fahren" zu reden, schon absteige und schiebe/trage? Wenn ich überhaupt bis zum Einstieg komme …

Foto: Thomas Rottenberg

Andererseits habe ich es noch nie bereut, just jene Dinge auszuprobieren, vor denen ich Bammel habe. Oder über die mir "Auskenner" sagten, dass ich das nie schaffen könne. Laufen zum Beispiel, attestierte mir mehr als nur ein Orthopäde, würde ich schmerzfrei nie länger als fünf Minuten können … Nun ja.

Das ist zwar eine andere Geschichte, aber nicht ganz Off-Topic: In meiner Welt ist Scheitern eine zulässige Option. Aber Dinge nicht zu probieren nicht. Dann kam die Einladung nach Massa Vecchia: Rad fahren in der Toskana. Im Frühling.

Die aktuelle Bike-Kollektion des Schweizer Sportartikellabels Scott gelte es zu probieren, sagte der PR-Mensch: Straßen- und Mountainbikes. Rennräder, Gravel-, Enduro-, Trailbikes und E-Geländehobel. Er lachte nur, als ich am Telefon einwarf, dass ich doch gerade in der intensiven Phase des Trainings für den Wien-Marathon … und da wohl keine Zeit zum Laufen … und ich doch von Enduro- und Trail-Bikes keinen Tau … und … Am Ende der Leitung gluckste es vergnügt: "Höre ich da Ausflüchte? Komm einfach mit." Na gut. Bevor mich einer haut.

Foto: Thomas Rottenberg

Meine Trainerin war wenig erbaut: Zuerst hatte mich die Grippe zwei Wochen umgenietet. Macht einen Brutto-Trainingsausfall von dreieinhalb Wochen. Das holt man nimmer auf. Sich dann – halb rekonvaleszent – gleich ordentlich die Rad-Kante zu geben, ist laufkontraproduktiv: Lange und intensive Laufeinheiten vor, zwischen oder nach Bike-Spaßetteleien schauen auf dem Plan gut aus – in die Wirklichkeit schaffen es diese Vorgaben so gut wie nie.

Andererseits: Beim VCM eine für mich gute Zeit zu laufen hatte ich mir eh schon bei den ersten Probeläufen nach der Liegerei abgeschminkt. Zu akzeptieren, in Wien einfach nur einen gemütlichen und hoffentlich spaßigen Halbmarathon runterzunudeln, tat da nicht mehr weh. Und: Ein bisserl Italo-Laufen würde sich vielleicht ja doch ausgehen.

Foto: Thomas Rottenberg
Ernesto Hutmacher mit seinen beiden Töchtern

Ich hatte da freilich die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Im Wortsinn: Massa Vecchia ist der Traum, den sich Ernesto Hutmacher selbst erfüllt hat. Hutmacher ist Schweizer. Er war Formel-1-Mechaniker und Rennfahrer in der Formel V, wechselte dann in den Fahrradsattel und war in der Schweiz eine fixe Größe.

Vor über 30 Jahren, erzählt der heute 65-Jährige, hatte er "eine Vision. Obwohl ich alles andere als ein spiritueller Mensch bin": Obwohl er noch nie in der Toskana gewesen war, sah er eine kleine mittelalterliche Stadt auf einem Berg, wusste, wie die hieß: "Massa Marittima". Damit nicht genug, war da noch etwas: ein Anwesen. Oder Gebäudekomplex am Fuß der Burg. Sogar den Namen kannte Hutmacher, noch bevor er "aus reiner Neugierde" von Zürich gen Süden fuhr: "Massa Vecchia". Und: Es war alles voller Radfahrer.

Foto: Thomas Rottenberg

To put a long story short: Hutmacher fand alles so vor wie in seinem Traum. Auch das Anwesen. Leer. Heruntergekommen. Er kaufte, renovierte und eröffnete ein Hotel. Heute, 30 Jahre später, ist Massa Vecchia in der schweizerischen und der italienischen Radszene eine Marke. Kult. Für Straßen- ebenso wie für Mountainbiker.

Hutmachers Verleihstation ist besser ausgestattet als so mancher Radspezialshop in Österreich – und seine Guides fahren (wenn man das will) so, dass sogar Rennrad- und Bahnfahrer mit Rennlizenz und Fast-Profi-Vergangenheit am Ende einer Tour glücklich zugeben, "vollkommen plattgefahren" zu sein.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber da ist noch etwas: Massa Marittima ist eine wunderschöne, aber sterbende Stadt. 10.000 Einwohner gab es noch vor ein paar Jahrzehnten. Jetzt, erzählt Bürgermeister Marcello Giundini, sind es knapp 6.000. Die Arbeitslosigkeit sei hoch, der Erhalt der mittelalterlichen Bausubstanz teuer und aufwendig – und Abwanderung eine echte Perspektive.

Foto: Thomas Rottenberg

Was Hutmacher hierher und hier trieb, verstand zunächst niemand. Heute flicht die Stadt ihm Kränze: Der "Maremma Cup" – rund um den unser Trip in die Toskana angelegt war – füllt nicht nur Hutmachers Herberge, sondern auch alle anderen Hotels der Stadt und der Umgebung.

Die Region sieht während dieses "Super Enduro" aus, als wäre ein Ritterheer eingefallen. Und bei der Altstadtetappe jubeln nicht nur Fans, sondern auch Hersteller und Touristiker: Im Tross des in Italien weltberühmten Rennens schleppen die Bike-Firmen und Komponentenhersteller Journalisten aus der ganzen Welt in die Toskana. Die Bilder in der Fachpresse sind unbezahlbar. Und wirken.

Foto: massavecchia.it

"Laufen?", fragt mich Ernesto Hutmacher am ersten Tag vor der ersten Tour – und lacht. "Klar geht das. Wir haben etliche Routen. Flach, hügelig – und gut markiert. Ganz wie du willst." Der 65-Jährige weiß, was ich als Nächstes fragen werde: "Ja, es gibt auch ein Schwimmbad. Im Ort. Ich bin jetzt nicht sicher, ob es ein 25- oder ein 50-Meter Becken hat – aber wir hatten und haben auch Triathlon-Teams hier." Dann legt er den Kopf schief: "Aber vor dem Laufen setzt du dich mal aufs Bike. Danach sehen wir weiter."

Foto: Thomas Rottenberg

Straßenrad fahren kann ich. Nicht besonders gut, aber halbwegs passabel. Und in Italien zu biken ist schon etwas Besonderes. Nicht nur wegen des Wetters, des Panoramas und der Luft. Nicht nur wegen der klischeehaft rollenden toskanischen Hügel (man kann es aber auch ordentlich knackig-steil anlegen), der Olivenbäume, des Entlangrollens an Strandpromenaden und des Zwischenstopps für einen kurzen Espresso. Auch, weil Radfahren hier einen anderen Stellenwert hat als in Österreich.

Foto: Thomas Rottenberg

Dass an zwei aufeinanderfolgenden Landstraßentagen kein einziger Autofahrer mit zu wenig (oder gar keinem ) Abstand an mir vorbeipresst oder plötzlich scharf abbremst und nach rechts zieht, dass niemand die eigene Potenz dadurch infrage gestellt sieht, dass Radfahrer nebeneinanderfahren, kommt in Österreich so gut wie nie vor. Und dass das nur Zufall war, glaube ich nicht wirklich.

Foto: Thomas Rottenberg

Der Plan von Hutmacher und den Scott-Leuten war so wie befürchtet: am Vormittag Straßenrad, am Nachmittag Moutainbike. Und zwar alles andere als Wald-und-Wiesen-Radlerei: Ich kann es zwar nicht beurteilen, aber die Fachpresse-Kollegen meinten, dass das, wo mich diese Spinner an den beiden Bike-Tagen rauf- und runterjagten, "technisch und fahrerisch durchaus anspruchsvoll" war.

Und zwar sowohl am klassischen Enduro- als auch am superspritzigen E-Mountainbike (mehr dazu im Outdoor-Blog): superlustig. Aber: Laufen am späten Nachmittag? Mein Activity Tracker zeigte auf dem Weg zurück zur Herberge an, dass ich 435 Prozent meines täglichen Solls erfüllt hätte. Und das Teil ist auf "hoch" kalibriert. Jetzt auch noch laufen? Aber sicher …

Foto: Thomas Rottenberg

Aber ganz ohne Rennerei geht es halt doch nicht. Am dritten Tag ließ ich die Kollegen losziehen – und zog die Laufschuhe an: Der Geist war willig, aber das Fleisch schwach. Respektive: die Beine schwer und müde. Von den zehn "progressiven" Kilometern (also, einfach gesagt, kontinuierlich schneller werdend) im Plan verabschiedete ich mich praktisch an der ersten Ecke: "Hügeling" und Tempolaufen gehen zwar gut. Aber wenn man die Route nicht kennt und die Beschilderung, sagen wir einmal, "italienisch" ist und die Landschaft sich nicht an den kopierten Planzettel hält, wird daraus recht rasch einfach ein feiner, lockerer mittellanger Lauf.

Foto: Thomas Rottenberg

Ganz abgesehen davon, dass es in so einer Gegend bei so einem Wetter sowieso Wichtigeres gibt, als sich wegen ein paar Sekunden bei einem Rennen, bei dem man sowieso keine gute Zeit einfahren kann, zu stressen – und auf das zu verzichten, was Laufen doch eigentlich ausmacht: den Genuss. Den Blick in die Landschaft. Das Einsaugen von Bildern, Gerüchen und Geräuschen.

Foto: Thomas Rottenberg

Denn: Wie oft kommt man schon dazu, durch italienische Landschaften wie aus dem Tourismuskatalog zu laufen? Wie oft hat man das Glück, genau zum Übergang in den Frühling in Italien zu sein? Wie oft ergibt es sich, dass da hinter jeder Ecke Olivenbäume stehen, man sich plötzlich in Pinienalleen wiederfindet und hinter der nächsten Kurve der Blick in ein weites Tal schweift, das eigentlich eine Ebene ist, die bis ans Meer reicht?

Foto: Thomas Rottenberg

Wie irr, ehrgeizig oder neben der Spur müsste man sein, da nicht hin und wieder stehen zu bleiben und sich einfach zu freuen, sondern die Augen auf die Strecke zu heften und so auf Anschlag zu rennen, dass man am Schluss vor lauter Laktat nicht einmal mehr die eigene Schuhspitze erkennt? Meine beste Lauffreundin sagt in solchen Augenblicken: "Schnell waren wir schon, jetzt wird es schön." Und auch wenn die erste Hälfte des Satzes für mich nicht zutrifft: Teil zwei ist das, worauf es ankommt.

Foto: Thomas Rottenberg

Darum war es mir auch ziemlich wurscht, dass ausgerechnet dort, wo die Strecke sich dann als Straße mit 13 Prozent Steigung hinaufmäanderte, die Markierungen nicht mehr verwirrend, sondern schlicht inexistent waren: Umdrehen und zurücklaufen geht ja immer.

Doch just dort, wo ich dann beschloss, es gut sein zu lassen, und begann, den Hang bergab zurückzutraben, kam mir – zufällig – Ernesto Hutmacher entgegen: Er hatte ein paar Biker irgendwo abgesetzt und war auf dem Weg zurück nach Hause. Dort, wo ich mich an ein "Ingresso vietato"-Schild gehalten hatte, lachte er, sollte eigentlich eine Laufroutenmarkierung sein. Also weiter.

Foto: Thomas Rottenberg

Ja, eh: Für einen echten, blühenden toskanischen Frühling war ich zu früh unterwegs. Eine Woche. Vielleicht nur ein paar Tage. Aber das merkte ich erst, als ich an diesem ersten blühenden Baum vorbeikam. Egal. Denn noch schöner, noch idyllischer, noch typischer und noch kitschiger wäre nachgerade unglaubwürdig gewesen. Außerdem: Es schadet nicht, wenn man einen Grund hat wiederzukommen.

Obwohl das in meinem Fall gleich mehrere sind.

Foto: Thomas Rottenberg

In Summe waren es dann nur Zehn-Komma-irgendwas-Kilometer. Und ein bisserl mehr als 200 Höhenmeter. Nichts Aufregendes oder Dramatisches also. Gut so: Die Runde kann ich zum Nachlaufen vorbehaltlos empfehlen. Pace, Anstiege und Anstrengung hatten sich unterwegs zwar nach deutlich mehr angefühlt – aber das wird wohl auch an den zahllosen Foto- und Orientierungsstops gelegen sein. Und an meinen müden Beinen: Ich habe schließlich vom Mountainbiken keine Ahnung. Aber das wird sich ändern.

Hinweis im Sinne der redaktionellen Richtlinien: Der Aufenthalt in der Toskana war eine Einladung von Scott und Massa Vecchia.

Mehr über Region und Aktivitäten ebendort demnächst auf derrottenberg.com. (Thomas Rottenberg, 17.3.2016)

Foto: Thomas Rottenberg