Mit Tschechows "Drei Schwestern" kann man Marina Davydova kaum noch überraschen. Timofeij Kuljabin ist es gelungen. Deshalb hat ihn die russische Festivalleiterin und Journalistin nach Wien geholt.

Foto: Robert Newald

STANDARD: Sie haben 2012 in "Theater heute" über die paradoxe Situation der Kulturpolitik in Russland geschrieben: Einerseits bekommt progressive Kunst Staatspreise, andererseits werden Institutionen ausgehungert. Ist die Situation inzwischen nicht eindeutiger geworden?

Davydova: Bis 2012 war das ganze Land auf dem Weg, in eine neue Zukunft aufzubrechen. Als aber dann Wladimir Putin das dritte Mal zum Präsidenten gewählt wurde, de facto eigentlich bereits das vierte Mal, haben sich die progressiven Konzepte verloren. Ich weiß nicht, ob das absichtlich war. Aber mit einem Mal wurde der Gedanke vom alten, glorreichen Russland immer lebendiger – im Sinne von: "Wir waren einmal großartig, sogar während der Stalin-Zeit. Wir müssen diese Großartigkeit wiedererlangen!"

STANDARD: Wie äußert sich das?

Davydova: Für mich ist es ein "Right-Wing-Project". Die Regierung hat durch die Presse die Bevölkerung in der Hand. 84 Prozent unterstützen Putin, und sie tun das ganz aufrichtig, aber sie informieren sich ausschließlich über das staatliche Fernsehen. Die Mehrheit nützt das Internet nicht. Momentan ist das Land gespalten: Der Großteil schaut fern und ist gehirngewaschen, der kleinere Teil sucht nach differenzierten Informationen. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in der Kulturproduktion wider. Bis 2012 waren veränderungswillige Künstler willkommen, sie bekamen Preise, Aufmerksamkeit. Heute werden sie vom Staat nicht mehr unterstützt. Man kann sagen: Heute müssen diese Künstler überleben, vorher konnten sie leben.

STANDARD: Sie sind Chefredakteurin des Fachmagazins "Teatr". Ihre Kollegin dort, Alla Schenderova, sagte zum STANDARD-Korrespondenten in Moskau, dass Ihre Redaktion Probleme bekam, nachdem Sie ein Schwerpunktheft zum ukrainischen Theater publiziert hatten. Was war passiert?

Davydova: Wir bekamen echte Probleme. Unmittelbar nach der Annexion der Krim und dem Start der Ukraine-Krise entschied ich mich dafür, ein Heft zum ukrainischen Theater zu machen. Alle Fernsehbildschirme kündeten davon, dass die "ukrainischen Faschisten" die russische Bevölkerung killen wollen. Unser Titelbild trug die ukrainischen Nationalfarben. Mehr brauchte es nicht. Das Heft enthielt keinerlei politische Statements! Wir wollten lediglich das ukrainische Theater untersuchen, es kennenlernen. Wir wissen darüber einfach zu wenig. Die Russen denken: "Das sind doch eh Russen, warum wollen sie nicht zu uns gehören? Habt ihr überhaupt eine eigene Kultur?! Sprecht doch Russisch! Wir haben eine große Kultur: Dostojewski! Tschaikowski! Tolstoi! Wen habt denn ihr schon?!" – So eine Denkart ist widerlich. Diese Teatr-Ausgabe und die Einladung der Gruppe Dakh Daughters aus Kiew zu den Festwochen sind mein Beitrag, um auf die imperialistischen Komplexe, an denen Russland heute erkrankt ist, einzuwirken.

STANDARD: Wurde Geld gekürzt?

Davydova: Es wurde uns das gesamte Geld entzogen. Die Behörden waren außer sich vor Zorn. Wir müssen seither danach trachten zu überleben. Die einzige hilfreiche Kulturstiftung in Russland ist die Michail-Prochorow-Foundation. Sie hat uns unterstützt. Natürlich sollte ich auch gefeuert werden. Aber irgendwie schien ihnen das dann die schlechte Publicity nicht wert gewesen zu sein. Es hat mir sicher auch geholfen, nach Wien berufen worden zu sein.

STANDARD: Ist es noch sinnvoll, über west- und osteuropäisches Theater zu sprechen?

Davydova: Ich denke, es hat heute wenig Sinn, über nationale Theaterkulturen nachzudenken. Wann ist etwas italienisch oder ungarisch? Natürlich gibt es gewisse Unterschiede, aber bezeichnenderweise sind diese bei hoher künstlerischer Qualität nicht mehr spürbar. Ist Dimitris Papaioannous Arbeit "griechisch"? Ist Simon McBurney "britisch"? Wir sollten aufhören, in nationalen Grenzen zu denken. Ich habe kein spezielles Interesse an westeuropäischem Theater, sondern an zeitgenössischem Theater. Ob ich das jetzt in Belgien finde oder in Israel, ist egal. Das Spannende ist, dass wir zum zeitgenössischen Theater keine Distanz haben. Wir können nur hinschauen und es entdecken.

STANDARD: Osteuropäische Inszenierungen erkennt man oft am Frauenbild: entweder mütterlich oder hypersexy. Warum ist das so?

Davydova: Osteuropa hat sehr archaische Geschlechterkonzepte: Frauen sollten ihr Frausein sichtbar machen, anhand handelsüblicher Codes wie Schminke und Highheels. Frauen auf der Bühne sind also in erster Linie Repräsentanten des Geschlechts, und erst danach zählt ihre Persönlichkeit, im Westen ist es umgekehrt. Zudem haben wir eine sehr maskuline Theaterkultur, es dominiert also der männliche Blick. Russland hat zu wenige weibliche Theaterpositionen.

STANDARD: Wie gehen Sie damit um, wenn Sie auf Ihren Theaterreisen in anderen kulturellen Kontexten Codes nicht verstehen?

Davydova: Sogar wenn Sie hier in Wien sehr gute Übertitel mitgeliefert bekommen, bedeutet das nicht, dass Sie alles verstehen werden. Ich kann sogar mit Gewissheit sagen, dass Sie von den russischen oder ukrainischen Performances einiges nicht werden verstehen können. Wenn ich rumänisches oder portugiesisches Theater sehe, passiert mir das natürlich auch. Aber es ist dennoch immer klar, ob der Abend gut ist, ob er die richtige Energie hat. Sogar wenn ich kein einziges Wort verstehe, so spüre ich dennoch die Energie der Bühne. Eine gute Performance akkumuliert immer irgendwie die Töne und Gedanken unserer Zeit.

STANDARD: Timofej Kuljabin ist das erste Mal in Wien. Er ist neben Konstantin Bogomolov Ihre Russland-Auswahl. Warum er?

Davydova: Es ist kaum mehr möglich, mich mit Tschechows Drei Schwestern zu überraschen, aber Kuljabin ist das gelungen. Seine Inszenierung richtet diesen erschöpften Text neu auf.

STANDARD: Gibt es eine neue spannende Generation, oder ist Kuljabin mit Jahrgang 1984 ein einzelner?

Davydova: Ich kann Ihnen in Moskau sofort zehn oder zwanzig interessante Inszenierungen empfehlen. In Paris zum Beispiel findet man diese nicht so leicht. Aber gemessen an der Vielzahl von Theaterhäusern – Moskau allein hat zwischen 180 und 250 Bühnen, die Zahl ist nicht leicht dingfest zu machen -, ist das nicht so besonders. Das heißt, das System muss falsch sein. Irgendwo werden Ideen gestoppt. Man muss in Russland sehr talentiert, sehr aktiv, sehr durchsetzungsfähig und überzeugt sein, dass man seinen Weg geht. Es ist keine Frage von Talent, sondern von Stärke. (Margarete Affenzeller, 8.3.2016)