Schüler lauschen der Nationalratssitzung im Parlament. Um Demokratie zu vermitteln, müssen auch Schulen selbst demokratisch werden, sagt Experte Oelkers. Das sei auch für Flüchtlingskinder wichtig.

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In der Schweiz bekommen Flüchtlingskinder in sechsmonatigen Vorbereitungskursen erste Deutschkenntnisse und demokratische Werte vermittelt, berichtet Erziehungswissenschafter Jürgen Oelkers im Interview mit dem STANDARD. Achtstündige Wertekurse, wie es sie in Österreich gibt, würden nicht ausreichen, glaubt er. "Ich vermute, dass das bei dem einen Ohr rein- und bei dem anderen rausgeht." Demokratie lernen alle Schüler am besten, in dem sie sich an der Unterrichtsgestaltung selbst beteiligen dürfen, sagt Oelkers.

STANDARD: Demokratie ist ein sehr komplexes Konstrukt. Wie können Lehrer das so herunterbrechen, dass auch Kinder etwas damit anfangen können?

Oelkers: Es gibt Fächer, in denen Demokratie als Wissen vermittelt wird. Etwas anderes ist es, wenn Schulen selbst demokratisch sind und demokratische Erfahrung vermitteln sollen. Idealerweise kann man das nicht trennen.

STANDARD: Wann ist eine Schule demokratisch?

Oelkers: Ein Stichwort ist Partizipation. Schüler sind zu beteiligen, etwa bei der Auswahl der Unterrichtsthemen. In der Schweiz beurteilen Schüler in bestimmten Berufsschulen auch ihre Lehrer. Natürlich hat das auch Grenzen. Es gibt immer häufiger den Versuch, Schüler am inneren Geschehen der Schule zu beteiligen. So können sie sich auf die Geschäfte als Staatsbürger vorbereiten.

STANDARD: Wie kann man das im Schulsystem umsetzen? Wenn Schüler entscheiden, was unterrichtet wird, kann der Staat die Inhalte nicht mehr kontrollieren.

Oelkers: Wenn man Ziele hat, heute spricht man von Kompetenzen, dann kann man sich auch verschiedene Wege dorthin suchen. Das heißt nicht, dass der Lehrplan den Schülern überlassen wird, aber beim Verständlichmachen von Themen, auch bei der Auswahl, kann man Schüler stärker beteiligen. Bei Fragen des Zusammenlebens ist das natürlich einfacher als in Mathematik.

STANDARD: Sind Sie für ein Fach für die Vermittlung von Demokratie, etwa Politische Bildung, oder ist das ein Querschnittsthema?

Oelkers: Wenn es Querschnitt ist, dann kommt es nirgendwo vor, das ist eine alte Erfahrung. In Luxemburg wird derzeit das Fach "Zusammenleben und Gesellschaft" entwickelt, dort soll es um die Lebenswelt der Kinder gehen, um ihre Identitäten, ihre Religion. In Zürich gibt es das Fach Religion und Kultur, in dem konfessionsneutral unterrichtet wird. So können Themen aus der Gesellschaft in die Schule geholt werden.

STANDARD: Sie sagen, dass keine andere Institution als die Schule für gesellschaftliche Integration sorgen kann. Warum sind Schulen hier so wichtig?

Oelkers: Weil alle Kinder zur Schule gehen. Kinder können nur erfahren, was demokratische Werte sind, wenn das in der Schule thematisiert wird. Darin liegt eine ganz große Zukunftsaufgabe.

STANDARD: Wie kann man Jugendlichen demokratische Werte vermitteln, die in autokratischen Systemen aufgewachsen sind?

Oelkers: Das Erste muss sein, dass sie die Unterrichtssprache lernen. Das Zweite ist, dass man klar macht, dass diese Gesellschaft nicht von einer Religion beherrscht wird. Das ist für viele ein Schock. Drittens brauchen sie einen Schulabschluss, mit dem sie sich integrieren können. Reiner Sprachunterricht reicht nicht, es sind auch Werte zu vermitteln.

STANDARD: In Österreich bekommen Flüchtlinge achtstündige Wertekurse. Ist das sinnvoll?

Oelkers: Sie müssen es leben lernen. Unterricht ist gut und schön, aber die entscheidende Frage ist das Zusammenleben. Deshalb spreche ich auch von Demokratie als Lebensform. Das kann man nicht abstrakt vermitteln. Ich vermute, dass das bei dem einen Ohr rein- und bei dem anderen rausgeht. In der Schweiz gibt es sechsmonatige Vorbereitungskurse, die für Schüler verpflichtend sind. Danach werden sie je nach Alter in Gemeinden untergebracht, besuchen Schulen, und bei Eignung machen sie auch Berufslehren.

STANDARD: Was passiert in diesen Kursen?

Oelkers: Die Aufgabe ist auch, ihnen klar zu machen, was die Schweizer Gesellschaft von ihnen erwartet. Sonst kommen sie in der Gesellschaft an und glauben, es geht so weiter wie früher. Man muss sie auf einen kulturellen Bruch vorbereiten. Da haben Schulen und Kurse einen Auftrag, auf demokratisches Leben vorzubereiten.

STANDARD: Wie lernt man demokratisches Leben?

Oelkers: Das lernt man etwa, indem man in der Schule bei verschiedenen Themen zusammenarbeiten lernt und gemeinsam Aufgaben löst. Es geht darum zulernen, wie man mit jemanden zusammenlebt, der nicht aus der Herkunftskultur kommt. Sie lernen die Sprache, man geht mit ihnen in die Gemeinde und zeigt ihnen, was auf sie zukommt und wie sie sich beteiligen können. Damit hat man das Nötigste getan, damit sie auch tatsächlich aktiv werden können. Das Schlimmste wäre, wenn diese Leute auf Dauer eine Ghettoerfahrung machen.

STANDARD: Was halten Sie davon, Flüchtlingskinder getrennt von anderen Schülern zu unterrichten?

Oelkers: Sie sollten so schnell wie möglich in die Regelklasse kommen, aber dafür brauchen sie Voraussetzungen. Die meisten kommen ohne jede Deutschkenntnis an. Es hat keinen Sinn, sie vorher an die Schule zu schicken. Außer es gibt an den Schulen Vorbereitungsklassen. Meiner Erfahrung nach ist es gut, wenn sie zuerst für sich Deutsch lernen. Die Integration in die Gemeinde funktioniert nur, wenn sie die Sprache zumindest ansatzweise beherrschen.

STANDARD: Das Argument von Sprachwissenschaftlern ist, dass man Sprache besser lernt, wenn man von ihr umgeben ist.

Oelkers: In den Schweizer Vorbereitungsklassen sprechen alle Lehrer Deutsch. Der Vorteil ist, dass die Kinder und Jugendlichen nicht sofort mit der Ernstfallsituation konfrontiert werden, sondern sich auf das Zusammenleben im neuen Land vorbereiten können. (Lisa Kogelnik, 9.3.2016)