Castorfs Sowjet-Proletarier realisieren den Kommunismus.

Foto: Thomas Aurin

Kenner der Sowjetliteratur schnalzen bei Nennung des Namens Andrej Platonow noch heute mit der Zunge. In das Andenken an den Autor mit dem Geburtsjahr 1899 mischt sich sofort die Trauer über etwas unwiederbringlich Verlorenes. Der Roman Tschewengur wurde 1972 in Paris veröffentlicht, da war Platonow 20 Jahre tot.

Die stalinistische Bürokratie verfuhr mit ihm wie mit einigen ihrer im Kern treuesten Parteigänger. Nachdem er als undogmatischer Freigeist erkennungsdienstlich entlarvt war, stellte man ihm nach. Platonow verrottete buchstäblich bei lebendigem Leib. Als Hausmeister beim Literarischen Institut in Moskau angestellt, fegte er die Hinterhöfe und ging vorübereilende Kollegen um Kippen an. Mit der Exhumierung des Romans Tschewengur hat Regisseur Frank Castorf einen unmöglichen Liebesdienst geleistet.

Das Buch ist in seiner ganzen Maßlosigkeit seit einiger Zeit im Stuttgarter Schauspiel zu bewundern. Tschewengur verhandelt in einer irrwitzigen Sprache das desaströse Scheitern des sowjetischen Gesellschaftsexperiments. Es preist und verneint zugleich den kurzen Sommer der Utopie.

Himmelreich auf Erden

Es schickt einen Don Quijote zu Pferde – der Gaul nennt sich allen Ernstes "Proletarische Kraft" – in die südrussische Steppe. Dort, zwischen Bauern, Huren und Maulhelden, soll das Himmelreich auf Erden errichtet werden. Das Buch gehört in eine Ahnenreihe mit den großen Dostojewskischen Thesenromanen. Als Theatervorlage schillert es in herrlich mutwilliger Pracht. Besucher der Wiener Festwochen können Castorfs Abgesang auf den Sowjetkommunismus ab 13. Mai im Museumsquartier bewundern.

Platonows überbordender Stil spielt Castorfs Ästhetik der Zergliederung wunderbar in die Karten. Die Bühne (Ausstattung: Aleksandar Denic) ist bereits Programm. Eine Windmühle ragt hoch in den Schnürboden. An ihrem Giebel ist ein Bild der kommunistischen Prophetin Rosa Luxemburg gut sichtbar befestigt.

Dreht man das Gebäude um 180 Grad, erscheint die Frontpartie einer Sowjetlokomotive. Das kolossale Ding pufft ohne Unterlass Rauchfahnen in die finstere Nacht. Unter dem Panzer der Echse findet sich bequem Platz für eine Werkkantine, Maschendraht zäunt einen Gulag-Garten ein. Willkommen im Arbeiter- und Bauernparadies!

Menschenfreundliche Maßlosigkeit

Wie immer schüttelt Castorf einen großen Stoff der Weltliteratur so ausgiebig, bis dieser seinen Mechanismus nicht ganz freiwillig entblößt. Den gut fünfstündigen Abend maßlos zu nennen, zielt komplett an seiner menschenfreundlichen Absicht vorbei. Castorf im Schwabenland, das meint die Fortsetzung der Volksbühnen-Kunst mit anderen Mitteln. Die erste Phase bleibt der biografischen Huldigung Platonows vorbehalten. Frauen auf hochhackigen Pumps monologisieren mit den Herren der Schöpfung um die Wette. Ein Alter Ego Platonows (Andreas Leupold) fährt in einem aufgebockten Moskwitsch mitten hinein in das finstere Herz der Sowjetzeit.

Die eigentlichen Helden des Romans aber, Kopenkin (Astrid Meyerfeldt) und das weggelegte Kind Dvanov (Johann Jürgens), bilden ein Paar wie Don Quijote und Sancho Pansa. Rund um die beiden zerfällt der sozialistische Aufbau in tausend Einzelteile. Man sieht Frauen, die aus lauter Not ihre Kinder im Jauchekübel ersticken. "Revolutionäre Komitees" halten endlose Plenarsitzungen ab. Wie immer bei Castorf überträgt die Handkamera das "Innere" in den Hinterzimmern nach draußen, auf einen riesigen Schirm.

Platonows Prosa explodiert den famosen Schauspielern auf der Zunge. Die lange Episode der Revolution rutscht herauf in die ewige Gegenwart. Letztlich arbeitet Frank Castorf an der Aufhebung unseres Zeitbegriffes. Sein Theater wehrt sich gegen den Skandal des Todes. Das Massensterben der Figuren im Kukuruzfeld (Filmeinspielung) gibt ihm dabei recht. (Ronald Pohl aus Stuttgart, 7.3.2016)