Die mangelnde Umsetzung der Aarhus-Konvention belastet die Wirtschaft.

Eva Schulev-Steindl, Professorin für öffentliches Recht, Universität Graz: "Umweltanwälte sind nicht die Zivilgesellschaft. Sie sind vom Staat bestellt und bezahlt –und dieser kann ihre Tätigkeit beeinflussen."

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Wilhelm Bergthaler, Partner, Haslinger/Nagele & Partner: "Bisher ging man davon aus, dass eine rechtskräftige Genehmigung eine Investition schützt. Doch das wurde durch die Aarhus-Rechtssprechung aufgeweicht."

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Wolfram Schachinger, Rechtsanwalt, Wolf Theiss: "Wenn zu viele mitreden, dann verläuft sich das Verfahren schnell, dann verlässt sich jeder darauf, dass der andere etwas macht."

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Martin Niederhuber, Partner, Niederhuber & Partner: "Dann schießt man mit einer Schrotflinte auf alles, um irgendetwas zu treffen, dann werden die Beschwerden destruktiv."

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Michael Proschek-Hauptmann, Geschäftsführer Umweltdachverband: "Es geht nicht darum, Projekte zu verhindern, sondern sachlich richtige Entscheidungen zu bewirken und sie gerichtlich überprüfbar zu machen."

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Vor fast zwei Jahrzehnten wurde in einer dänischen Stadt die sogenannte Aarhus-Konvention unterzeichnet, die einer breiten Öffentlichkeit eine Mitsprache bei Umweltanliegen zusichert; im Jahr 2005 hat Österreich das Regelwerk so wie 46 andere europäische Staaten ratifiziert; es ist inzwischen Teil des Unionsrechts.

Darin hat sich Österreich verpflichtet, Umweltorganisationen und Betroffenen bei Bauprojekten ausreichende Informationen, Beteiligung bei Genehmigungsverfahren und schließlich Zugang zu Gerichten bei Umweltverfahren einzuräumen.

Doch elf Jahre später müssen die Politik und damit befasste Experten erkennen, dass Aarhus immer noch nicht vollständig umgesetzt wurde. Vor allem Artikel 9 Absatz 3, der eine gerichtliche Beschwerde- und Überprüfungsmöglichkeit der Öffentlichkeit für sämtliche Verstöße gegen das innerstaatliche Umweltrecht vorsieht, hat noch keinen Eingang in die heimische Rechtsordnung gefunden.

Was Umweltorganisationen seit Jahren fordern, nämlich eine großzügige Auslegung der Konvention beim Gerichtszugang, bestätigte 2011 der Europäische Gerichtshof in einer Entscheidung gegen die Slowakei (8. 3. 2011, C-240/09 "Slowakischer Braunbär"). Und im Juli 2014 leitete die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich wegen Säumigkeit im Rechtsschutz in Umweltschutzbelangen ein.

Die Gründe für die Verzögerung sind vielfältig, sagen Experten. Erstens passt der Zugang der Aarhus-Konvention nicht in die österreichische – und auch deutsche – Rechtsordnung, in der Beschwerderechte auf jene Parteien beschränkt sind, die von vornhinein an einem Genehmigungsverfahren beteiligt waren – die sogenannte Präklusion. Doch Aarhus hat Vorrang vor nationalen Rechtstraditionen, stellte der EuGH vor kurzem in einer Klage der Kommission gegen Deutschland fest (15. 10. 2015, C-137/14).

Zweitens muss jede Gesetzesänderung im Umweltrecht mit neun Bundesländern abgestimmt werden. Diese haben ihre Landesumweltanwälte, die alle Interessen der Öffentlichkeit vertreten sollen, und sehen wenig Grund, die Verfahren auch für aufmüpfige Umweltorganisationen zu öffnen.

Und drittens steht die Wirtschaftskammer seit Jahren auf der Bremse. Dort will man verhindern, dass NGOs und Bürgerinitiativen wirtschaftlich bedeutende Projekte verzögern oder verhindern, wenn sie von Anfang an am Tisch sitzen oder Genehmigungsbescheide im Nachhinein beeinspruchen können.

Nur bei Großprojekten

Umgesetzt ist der geforderte Gerichtszugang weitgehend bei Großprojekten, die eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) brauchen oder unter die sogenannte IPPC-Richtlinie über die "integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung" fallen. Die vom EuGH im Fall "Karoline Gruber" (16. 4. 2014, C-570/13) monierte mangelnde Nachbarbeteiligung bei der Feststellung einer UVP-Pflicht wurde vor kurzem in einer Gesetzesnovelle repariert.

Aber bei kleinen und mittelgroßen Bau- und Industrieprojekten, die das Wasserrecht, Abfallrecht oder Naturschutzrecht berühren, hat die Öffentlichkeit kaum eine Chance, ihre Bedenken einzubringen – vor allem auch, weil sie mangels einer allgemeinen Veröffentlichungspflicht davon gar nicht erfährt. Das betrifft auch etwa jede Erweiterung einer Produktionsanlage, ein kleines Wasserkraftwerk oder den Bau einer Umfahrungsstraße.

"Österreich hat die Aarhus-Konvention in der Hoffnung unterschrieben, dass die Umweltanwälte diese Aufgabe ohnehin erfüllen", sagt Eva Schulev-Steindl, Professorin für öffentliches Recht an der Universität Graz. "Aber das reicht nicht, denn sie sind nicht die Zivilgesellschaft. Sie arbeiten mit den NGOs zwar gut zusammen, aber sie sind vom Staat bestellt und bezahlt – und dieser kann ihre Tätigkeit beeinflussen."

Deshalb müsse rasch ein Weg gefunden werden, dass Umweltorganisationen nicht nur bei UVP-Verfahren das Recht erhalten, Bescheide zu beeinspruchen. Das wurde bei der jüngsten Abfallwirtschaftsgesetznovelle 2015 wieder verabsäumt.

Dafür ist der Verwaltungsgerichtshof aktiv geworden: In einem Vorabentscheidungsantrag an den EuGH (26. 11. 2015, EU 2015/0008) fragt er nach, ob Umweltgruppen ein Recht auf Einhaltung des sogenannten Verschlechterungsverbots nach der Wasserrechtrichtlinie haben. Die erwartbare Antwort des EU-Gerichts wird einen weiteren Stein aus der bestehenden Rechtspraxis herausschlagen.

Die wirtschaftlichen Auswirkungen der unsicheren Rechtslage sind gravierend, sagen Wirtschaftsanwälte. Denn Gruppen, die nicht an einem Genehmigungsverfahren teilgenommen haben, können im Nachhinein einen bereits rechtskräftigen Bescheid mit Hinweis auf die ihnen vorenthaltenen Aarhus-Rechte beeinspruchen – und würden wohl auch recht bekommen.

Eine fertige Anlage dürfte dann nicht in Betrieb genommen werden, eine bereits betriebene müsste wieder abgeschaltet werden, wenn es nicht gelinge, den Fortbetrieb durch komplizierte juristische Konstruktionen überbrückungsweise aufrechtzuerhalten, warnt Wilhelm Bergthaler, Umweltrechtsexperte in der Linzer Kanzlei Haslinger Nagele.

Probleme bei Banken

"Bisher ging man davon aus, dass eine rechtskräftige Genehmigung eine Investition schützt – Rechtskraft heilt Rechtswidrigkeit. Doch das wurde durch die Aarhus-Rechtssprechung aufgeweicht", sagt er. "Die Behörden scheuen sich daher, überhaupt Rechtskraftsbestätigungen auszustellen, und das schafft wiederum Probleme bei der Finanzierung durch die Banken."

Er sei als Anwalt nun ständig gefordert, für ausländische Investoren aufwendige "Legal Opinions" über die Rechtssicherheit in Österreich zu verfassen. "Das berührt auch den Standortwettbewerb", sagt Bergthaler und fordert ebenso wie andere Wirtschaftsanwälte eine rasche Lösung des Problems.

Aber wie? Grundsätzlich sind sich Experten einig, dass Österreich ein umfassendes Umweltrechtsbehelfsgesetz benötigt, das den Gerichtszugang in allen Umweltbelangen regelt. Dieses müsste für die Länder genauso wie für den Bund gelten. Derzeit ist zum Beispiel der Naturschutz von Land zu Land anders geregelt, während beim Abfall- und Wasserrecht die Bundesgesetze in den Ländern unterschiedlich vollzogen werden.

Viele Details eines solchen Gesetzes müssten erst ausgehandelt werden; auf eine klare Regelung durch eine Richtlinie hat die EU-Kommission einst verzichtet.

Illustration: Johannes Pernerstorfer

Nicht alle Bürger

Die erste Frage ist, wer aller mitsprechen kann. Ein Klagsrecht für jeden Bürger, wie es in anderen Ländern existiert, sei in Österreich gar nicht umsetzbar, heißt es. Die Rechte betroffener Nachbarn seien bereits gut ausgebaut und müssten nicht erweitert werden, sagt etwa Schulev-Steindl. Wolfram Schachinger, Anwalt bei Wolf Theiss, warnt vor einem ungeregelten Zugang. "Wenn zu viele mitreden, dann verläuft sich das Verfahren schnell, dann verlässt sich jeder darauf, dass der andere etwas macht."

Aber auch das andere Extrem, wenn man etwa nur ein oder zwei große Umweltorganisationen zulässt, wie es manche in der Wirtschaftskammer empfehlen, würde den Geist von Aarhus nicht erfüllen. Sinnvoll wären etwa die 30 nationalen und insgesamt rund 50 Umweltorganisationen, die auch bei UVP-Verfahren mit am Tisch sitzen, bei allen Verfahren ein Mitspracherecht einzuräumen, sagt Michael Proschek-Hauptmann, Geschäftsführer des Umweltdachverbands: "Sie müssen eine gewisse Erfahrung haben, und man muss wissen, wer dahinter steht."

Offen ist weiters, ob man diese Gruppen von Anfang an im Genehmigungsverfahren einbindet oder ihnen erst am Ende ein gerichtliches Beschwerderecht einräumt. Der erste Weg kann die Verfahren in die Länge ziehen. Schachinger: "Dann werden auch Projekte ohne große Auswirkungen so komplex, dass die Behörden überlastet sind und die Wirtschaft zum Stillstand kommt." Außerdem bestehe die Gefahr, dass über das Genehmigungsverfahren wichtige Informationen zu Konkurrenten fließen, die ihre eigenen Projekte verfolgen.

Gemeindevolkssport

Schachinger verweist etwa auf Wasserkraftwerke in Tirol, wo Gemeinden ihre Parteienstellung für ihren eigenen Vorteil nutzen. "Umfassende Beteiligung kann missbraucht werden", sagt er. "In Tirol ist ein Projekt ohne Beteiligung der Standortgemeinden nicht mehr möglich, das ist zum Gemeindevolkssport geworden."

Andere Experten betonen allerdings, dass die vierwöchige Beschwerdefrist bei komplexen Projekten zu kurz ist, um alle Dokumente zu studieren und eine fundierte Eingabe zu formulieren. "Dann schießt man mit einer Schrotflinte auf alles, um irgendetwas zu treffen, dann werden die Beschwerden destruktiv", warnt Rechtsanwalt Martin Niederhuber von Niederhuber und Partner.

Außerdem bestehe die Gefahr, dass der EuGH eine solche restriktive Regelung als Aarhus-widrig aufhebt. Auch den Projektbetreibern sei es meist lieber, wenn alle Parteien von Anfang an miteingebunden sind; man wüsste dann besser, welche Probleme zu erwarten sind.

Späte Beteiligung

Bergthaler hält es für sinnvoll, wenn Umweltorganisationen in der Spätphase des Genehmigungsverfahrens beteiligt werden – "etwa am Ende des Ermittlungsverfahrens knapp vor einer Entscheidung". Das sei vor allem dort nützlich, wo es um die Verbesserung der Qualität eines Projekts etwa durch zusätzliche Umweltauflagen geht.

Damit könnte man spätere Blockaden vermeiden. Bei Ja-Nein-Entscheidungen wie bei der Feststellung einer UVP-Pflicht reiche hingegen ein nachträgliches Überprüfungsrecht. Erwägenswert wäre auch, dass sich der Antragssteller für eine der beiden Optionen entscheiden kann.

Notwendig sei auch eine Veröffentlichungspflicht von Bescheiden im Internet, die damit als zugestellt gelten und so den Beginn der Rechtsmittelfrist auslösen, sagt Nieder-huber. Derzeit scheitert die Veröffentlichung von Projektunterlagen in manchen Ländern auch an technischen Hindernissen, berichtet Schachinger: "Die Server haben nicht genug Speicher."

Wie immer die genaue Ausgestaltung aussehen wird, Österreichs Wirtschaft würde darunter nicht leiden, sagt Proschek-Hauptmann vom Umweltdachverband. "Ich wehre mich dagegen, dass die NGOs in den Topf der Blockierer geworfen werden", sagt er. "Es geht nicht darum, Projekte zu verhindern, sondern sachlich richtige Entscheidungen zu bewirken und sie gerichtlich überprüfbar zu machen." UVP-Verfahren würden im Durchschnitt nur acht Monate dauern, und nur etwa drei Prozent aller Bescheide im Naturschutzbereich seien negativ. Die Mitwirkung von NGOs zwinge die Projektbetreiber bloß dazu, ihre Anträge besser vorzubereiten.

Bewegung notwendig

Hauptmann-Proschek wirft der Wirtschaftskammer vor, eine Lösung des Aarhus-Problems mit vorgeschobenen Argumenten zu verzögern, und auch wirtschaftsnahe Anwälte räumen ein, dass die Kammer sich im Interesse der Wirtschaft bewegen müsste.

Allerdings rechnet niemand mit dem großen Wurf in absehbarer Zeit. Dazu ist das Thema zu komplex und der Widerstand der Länder und der Lobbys zu stark. Niederhuber schlägt deshalb einen schrittweisen Prozess vor, bei dem konkrete Rechtsprobleme gelöst werden – zunächst etwa im Wasserrecht, wo derzeit das EuGH-Verfahren anhängig ist.

"Wir werden das in der ganzen Dimension nicht auf einmal erheben", warnt er. Als zweiten Schritt müsse man die Frage des Gerichtszugangs – das Kernproblem bei Aarhus – angehen und schließlich eine Diskussion über die Ausgestaltung eines Umweltrechtsbehelfsgesetzes lostreten.

Entscheidend ist, dass am Ende die Umweltorganisationen die Öffentlichkeit wirksam vertreten können, sagt Bergthaler: "Wir haben jahrelang mit den Umweltanwälten aufs falsche Pferd gesetzt. Sie sind zwar eine sinnvolle rechtsstaatliche Einrichtung, aber bei Aarhus müssen die NGOs die Schlüsselrolle spielen." (Eric Frey, Wirtschaft & Recht, 12.3.2016)