Arbeit soll vor allem eines: Sinn stiften und Selbstverwirklichung ermöglichen – so denken insbesondere Akademiker. Das Passion Principle sorgt aber für Ungleichheit, Michael Meyer nennt dafür mehrere Beispiele.

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Bei den im Silicon Valley angesiedelten Tech-Firmen ist das Passion Principle oberstes Gebot: Hier interessiert Bewerber in erster Linie nicht das Gehalt, sondern Freizeitaktivitäten auf dem Campus, flexible Arbeitszeiten und die Einrichtung der Arbeitsplätze. Einer der größten Verfechter der sinnstiftenden Arbeit war Steve Jobs.

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"Deine Arbeit nimmt einen großen Teil deines Lebens ein. Nur wenn du einen tollen Job hast, für den du dich begeisterst, wirst du zufrieden sein. Wenn du den noch nicht hast, suche weiter. Gib nicht auf. Suche ihn mit aller Kraft, dann wirst du ihn auch finden": Apple-Gründer Steve Jobs war der Chefprediger des Passion Principle.

Die Leidenschaft für die Arbeit, der Beruf als Berufung spielt mittlerweile jene soziale Rolle, die die romantische Liebe im 19. Jahrhundert innehatte: Ein gesellschaftliches Desideratum, ein Ideal, das aber ein Luxusgut für wenige Privilegierte bleibt und damit die gesellschaftliche Ungleichheit verstärkt. Zusätzlich zum ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapital besitzt die Oberschicht ja auch die Definitions- und Verfügungsmacht über gesellschaftliche Ideale, die nur sie erreichen kann. Auch zu solchen Themen wird in Stanford geforscht.

Sinn vor Einkommen

Erin A. Cech ist Soziologin, war lange in Stanford und forscht und lehrt jetzt an der Rice University in Houston. Ihre Schwerpunkte sind jene verborgenen kulturellen Mechanismen, die gesellschaftliche Ungleichheit stabilisieren und verstärken. Das Passion Principle hält sie für einen solchen, besonders wirkungsmächtigen Mechanismus. Gerade Stanford ist wenig überraschend eine der Hochburgen des Passion Principle. Wenn man hier Studierende fragt, worauf es ihnen bei einem künftigen Job ankommt, dann nennen sie drei Aspekte: Der Job muss intellektuell herausfordernd sein. Man muss ihn lieben können. Und er muss zur Biographie und zum Selbstkonzept, also zum Idealbild der eigenen Persönlichkeit passen.

Cech hat Studierende unterschiedlicher US-Universitäten gefragt: Je elitärer die Universität und die soziale Herkunft, desto wichtiger sind diese Kriterien für die Wahl von Studium und Beruf und desto unwichtiger sind Einkommen und Jobmöglichkeiten. Für 70 Prozent der von Cech untersuchten Collegestudierenden ist es am wichtigsten, dass man sich für den künftigen Job begeistern kann und dass er Sinn und Bedeutung stiftet. Unter den Stanford-Studierenden ist dieser Anteil 90 Prozent.

Elitenphänomen

Die USWorks-Studie 2008 zeigt noch deutlicher, dass das Passion Principle ein Elitenphänomen ist: Während es für Akademiker – in den USA 36 Prozent der Bevölkerung – am wichtigsten ist, dass der Beruf Sinn und Begeisterung stiftet, und das erzielbare Einkommen und die Arbeitsmarktsituation erst an zweiter und dritter Stelle genannt werden, ist es bei den 64 Prozent der US-Bevölkerung, die nur die High-School abgeschlossen haben, genau umgekehrt: Am wichtigsten für die Berufswahl ist es, dass man Arbeit findet. Dann kommt das Einkommen, und der Sinn kommt zuletzt.

Viele Ungleichheiten

Das Passion Principle stabilisiert und verstärkt Ungleichheit auf vielerlei Weise: Orientieren sich beispielsweise Frauen bei der Studien- und Berufswahl am Begeisterungsprinzip, gehen sie in der Regel in die traditionellen Frauenberufe und in geistes- und sozialwissenschaftliche Studien. Sozialisationsbedingt "begeistern" sie sich stärker für Menschen als für Maschinen, für Unberechenbares als für Axiomatisches und für Emotionen als für Logik. Sie studieren dann eben nicht die Mint-Fächer, sondern werden Lehrerinnen, Journalistinnen oder Personalentwicklerinnen.

Ein zweites Beispiel: Der Druck, sich für ein Studium begeistern zu müssen, führt bei Unterschichtskindern dazu, dass sie Soziologie studieren und nicht Betriebswirtschaft – und sich damit den sozialen Aufstieg erschweren.

Und drittens: Begeisterungsfähigkeit wächst nicht, ohne vom Elternhaus gefördert zu werden. Noch vor 20 Jahren war es viel legitimer, ein Studium zu wählen, weil man mit diesem Studium auch Arbeit finden würde, und es war legitimer, einen Job zu wählen, weil man damit ganz gut verdient und berufliche Sicherheit hat. Heute muss man sich hingegen begeistern, Sinn finden und sich in der Arbeit selbst verwirklichen.

Die Selbstverwirklichungsillusion

Das Perfideste am Passion Principle ist, dass damit die Schuld am Scheitern einzig und allein der einzelne trägt: Wenn es ohnehin gesellschaftlich erwünscht ist, dass jeder Mensch Sinn und Verwirklichung in seiner Arbeit findet, dann kann man ja nur selbst daran schuld sein, wenn einem das nicht gelingt. Für den Supermarktkassier oder die Uber-Fahrerin ist es vielleicht schwieriger – in den USA wird das ausgeblendet. Dass nicht nur der Einzelne für seinen schlechte Jobs und seine Armut verantwortlich ist, wird hier ungern gesehen.

Ähnlich funktionierte und funktioniert übrigens die romantische Liebe: Mit der Liebesheirat kam das Eheunglück, der Rosenkrieg und die Explosion der Scheidungsraten. Mit der Selbstverwirklichung durch Arbeit kam jetzt einmal das Burnout – und wer weiß, was noch kommen wird. (Michael Meyer aus Palo Alto, 10.3.2016)