Die Balkanroute – im Bild Flüchtlinge in Idomeni – soll geschlossen werden.

Foto: AFP/LOUISA GOULIAMAKI

Es gibt sie noch: jene, die Willkommen zu Hilfesuchenden sagen und sich dafür nicht entschuldigen. Wir erinnern: es waren mehr als 100.000, die im Frühherbst 2015 beim großen Konzert "Voices for refugees" am Heldenplatz dabei waren. Eine Welle der Solidarität ging durch Österreich, von Hilfsorganisationen und privaten Initiativen, bis hin zu öffentlichen Betrieben wie der ÖBB. Sogar Innenministerin Johanna Mikl-Leitner hieß die Flüchtlinge damals noch persönlich willkommen. Und scheinbar von dieser Welle der Menschlichkeit überrascht, schwieg die FPÖ. Österreich war stolz auf sich selbst, und feierte sich – daheim und auswärts – als das Land der Menschenfreunde.

Nun, im März 2016, wird in der Öffentlichkeit kaum mehr über hilfesuchende und leidende Menschen gesprochen, sondern fast ausschließlich über das Flüchtlings-"Problem", über Zahlen, Obergrenzen und Zäune. Obwohl wir täglich Bilder des Krieges in Syrien, der Flüchtenden in Schlauchbooten vor Griechenland und der Gestrandeten an der Grenze zu Mazedonien sehen, wird die Situation nicht mehr als humanitäre Katastrophe für die Menschen aus Kriegsgebieten wahrgenommen, sondern als Bedrohung unserer Gesellschaft – als "Bedrohung durch Überfremdung".

Debatte im Wandel

Dieser Wandel in der Berichterstattung und Wahrnehmung geschah schleichend. Es begann leise mit "dass man doch bitte über alles reden können sollte" und "dass man Verständnis für die berechtigten Ängste der Menschen haben müsse". Als ob dies jemand je in Frage gestellt hätte. Danach folgte der Vorwurf der gesteuerten Berichterstattung, bis hin zum Begriff Lügenpresse. Man redete nicht mehr über die Not der Menschen. Das "Framing" der Diskussion hat sich massiv geändert – ein Schelm, der hier Schlechtes denkt – und ging einher mit einer fast organisierten Kampagne von rechts (on- und offline). Hier zeigt übrigens Social Media ihr doppelbödiges "basisdemokratisches", anonymes und hetzerisches Gesicht. Und nun fast täglich neue Schikanen: Obergrenzen und tägliche Quoten, Kürzung der Mindestsicherung für anerkannte Flüchtlinge, et cetera. Nur den Vorschlag zum Schießbefehl an den Grenzen überließ man der deutschen Rechten – aber man darf ja über alles reden und diskutieren.

Bundeskanzler, Minister und Ministerinnen wechselten die Seite – teilweise getrieben, teilweise treiben sie selbst. Die groß kommunizierte Partnerschaft mit Deutschland und Kanzlerin Angela Merkel ist vergessen, die Menschlichkeit Merkels als Auslöserin des Flüchtlingsstroms denunziert. Ohne schlechtes Gewissen wirft man allgemeingültige humanitäre Werte, internationale Verpflichtungen und Gesetze über Bord. Die Änderung ist innenpolitisch motiviert. Die Großparteien haben Angst: vor der FPÖ, dem Boulevard und der sogenannten Stimmung in der Bevölkerung. Als wäre diese Stimmung nicht zu einem großen Teil auch ein Resultat der politischen und medialen Stimmungsmache. Anstatt Angst zu nehmen, schürt man sie, und verweist dann auf sie als Ursache des eigenen Handelns.

Populistische Schlenker

Aber wir verlieren dabei nicht nur Menschlichkeit, als Basis des Zusammenhalts unserer Gesellschaft. Mutwillig, fast frech, wird eine europäische Lösung torpediert, und damit in dieser kritischen Situation der gesamte europäische Prozess gefährdet. Nicht dass Flüchtlinge die Ursache der Krise Europas sind, aber der aktuelle Umgang mit ihnen verschärft sie. Als "schuldig" benannt werden Brüssel, Berlin und Athen, nicht mehr die Solidarität verweigernden Visegrád-Staaten. Griechenland wird nun allein gelassen – ins Chaos getrieben, gemeinsam mit den dort gestrandeten Menschen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade die Europapartei ÖVP diesen Schwenk initiiert hat. Von der SPÖ weiß man ja seit ihren "Kronenzeitungsbriefen", dass sie für solche populistische Schlenker zu haben ist.

Der Nationalismus feiert seine Wiederkehr in Europa; vergessen sind dessen leidvolle Folgen. Fast "schlafwandlerisch" und geschichtslos bewegen wir uns in Richtung nationaler Abschottung. Schuld haben immer die anderen; frech werden diese zurechtgewiesen. Gleichzeitig ist allerdings die europäische Bevölkerung klüger als ihre Politiker: eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung in den 28 EU Staaten mit insgesamt über 11.000 Befragten im Dezember 2015 zeigt eine deutliche Mehrheit der EU-Bürger für eine gesamteuropäische Antwort auf die Flüchtlingssituation sowie eine faire Verteilung der Neuankömmlinge auf alle europäischen Staaten. Nationalen Alleingängen wird eine klare Absage erteilt.

Apropos Geld

Die Neuerrichtung der alten Grenzen verursacht nicht nur immense politische Probleme, sondern auch enorme wirtschaftliche Schäden und wird ein Vielfaches dessen kosten, was man für eine vernünftige Versorgung der Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern vor Ort und auch innerhalb Europas ausgeben müsste. Weniger als ein Prozent des BIP werden genannt – deutlich weniger als etwa die Rettung europäischer Banken kostete. Nicht von ungefähr beteiligt sich die europäische Industrie nicht an dieser Stimmungsmache und mahnt.

Apropos Geld: Das österreichische Parlament hat im vorigen Jahr einstimmig beschlossen, sich mit 15 Millionen Euro am World Food Programme der UNO zu beteiligen. Damit werden Flüchtlinge in Lagern in der Türkei oder im Libanon ernährt – die Kürzung der nationalen Beiträge für dieses Programm löste den aktuellen Flüchtlingsstrom aus. Allerdings wurden von den versprochenen 15 Millionen bis jetzt nur sechs Millionen Euro überwiesen. Man erinnere sich noch an die öffentlichen Rechenbeispiele unseres Außenministers, um wie viel es billiger wäre, die Leute vor Ort zu versorgen als sie nach Europa aufbrechen zu lassen – wie wahr.

Informatik und Integration

Aber warum melden sich nun Universitätsprofessoren, Informatiker der TU Wien, zu diesem Thema zu Wort? Einerseits haben Universitäten in der Flüchtlingskrise viel getan; sie hießen Flüchtende willkommen, tun dies noch immer, und spielen eine aktive Rolle in der Integrationsarbeit. Es wäre ja absurd, Flüchtlinge am Rand der Gesellschaft zu lassen beziehungsweise sie an den Rand zu drängen, und sich dann zu beklagen, dass marginalisierte und ihrer Hoffnung beraubte Menschen ein Gefahrenpotenzial darstellen.

Die Informatik spielt dabei eine besondere Rolle: grundlegende Computerkenntnisse sind in unserer modernen Gesellschaft unumgänglich. Daher organisieren wir – Angehörige der Fakultät für Informatik an der TU Wien gemeinsam mit Studierendenvertretern – seit Sommer 2015 eine besondere Art von Lehrveranstaltungen für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge. In den Kursen selbst unterrichten unsere Studierenden. Beide, Flüchtlinge und Studierende, erleben diese Erfahrung sehr positiv, und beide Seiten lernen einiges. Das Beispiel machte Schule, so boten viele Alumni und Firmen spontan ihre Hilfe an. Dies ist ein Beispiel für aktive Integrations- und Willkommenskultur.

Offene Gesellschaft, offene Wissenschaft

Andererseits und abseits konkreter Initiativen österreichischer Universitäten: Wissenschaft und Forschung funktionieren nur in einer offenen Gesellschaft, in einem Klima der Toleranz, des gegenseitigen Respekts und der Internationalität: es gibt keine österreichische Wissenschaft, es gibt sie nur europäisch und international. Die Abschottung des Geistes haben wir bereits einmal erlebt, mit all ihren furchtbaren und noch nachwirkenden Folgen. Und: Universitäre Forschung und Lehre beschränkt sich nicht auf den jeweilig eigenen Schrebergarten, sie blickt auch nach außen. Als Teil dieser Gesellschaft beziehen wir auch in schwierigen Zeiten Stellung.

Ja, die Stimmung hat sich gedreht und das Thema polarisiert. Gerade deshalb ist es wichtig, Rückgrat zu zeigen und auf der richtigen Seite zu stehen: Als Individuum und als Land; Österreich sollte sich nicht auf die falsche Seite schlagen. Wir könnten die Situation auch als Chance begreifen: a) Menschen aus anderen Ländern sind auch eine Bereicherung und de facto "rechnet" sich eine erfolgreiche Integration auf längere Sicht; und b) Österreich könnte sich im Zentrum Europas als Vorreiter einer menschlichen Lösung präsentieren. Wir wären nicht alleine. (Hannes Werthner, Reinhard Pichler, Nysret Musliu, 7.3.2016)