Bofinger vertritt im Sachverständigenrat oft entgegen der dort herrschenden Mehrheitsmeinung eine eher linke, nachfrageorientierte Linie.

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STANDARD: Trotz Niedrigzinsen kommt die Konjunktur in der Eurozone nicht in Schwung. Ein Alarmzeichen oder Jammern auf hohem Niveau?

Bofinger: Ich glaube wir erleben eine Art Krise des Kapitalismus. Sie lässt sich darauf zurückführen, dass sich die Einkommen zunehmend ungleich entwickelt haben. Das Geld landet bei denen, die schon viel haben, die das Geld einfach bunkern. Dadurch fehlt die Nachfrage und jene, bei denen das Geld gelandet ist, haben keinen Anreiz zu investieren.

STANDARD: Ein Problem der Eurozone war lange die Lohnzurückhaltung in Deutschland. Die Krisenländer waren dadurch noch weniger wettbewerbsfähig als ohnehin, weil sie im Vergleich zu Deutschland immer teurer produzierten.

Bofinger: Extrem war die deutsche Lohnzurückhaltung bis 2007. Seitdem versuchen die Länder mit Problemen, über Lohnzurückhaltung wettbewerbsfähiger zu werden. Aber das gelingt nicht wirklich, weil die Lohnstückkosten in Deutschland nur um knapp zwei Prozent pro Jahr steigen. Die anderen Länder haben deutlich weniger und im Durchschnitt der Eurozone steigen die Lohnstückkosten nur um ein Prozent. Das macht es auch extrem schwierig, das Inflationsziel von zwei Prozent zu erreichen. Deutschland müsste mehr Gas geben, müsste sagen, wir machen mal ein, zwei Jahre einen halben oder einen ganzen Prozentpunkt mehr Lohnerhöhung. Aber das ist nicht durchsetzbar.

STANDARD: Hat der im Vorjahr eingeführte Mindestlohn das Lohnniveau nicht deutlich angehoben?

Bofinger: Nein, sein Einfluss darauf ist nicht groß.

STANDARD: Was waren dann die Hauptargumente für den Mindestlohn?

Bofinger: Erstens: Dass der Wettbewerb in einem Markt über bessere Produkte, über mehr Produktivität laufen sollte und nicht über niedrige Löhne. Das ist eine merkwürdige Form von Wettbewerb, wenn sich durchsetzt, wer seine Leute am schlechtesten behandelt. Zweitens: Wer Vollzeit arbeitet, sollte von seiner Hände Arbeit leben können. Es muss extrem frustrierend sein, wenn ich 40 Stunden die Woche arbeite, in einem Job, der vielleicht nicht so toll ist, und am Ende des Monats bin ich trotzdem auf einen Zuschuss angewiesen.

STANDARD: Kritiker meinten, durch den Mindestlohn gingen Arbeitsplätze verloren.

Bofinger: Der allgemeine Mindestlohn klappt, die Arbeitslosigkeit in Deutschland sinkt weiter. Und das wusste man dank branchenspezifischer Mindestlöhne schon davor. Ende 2013 wurde beispielsweise einer für Frisöre eingeführt. Da gab es Befürchtungen, dass sich die Leute dann die Haare selber schneiden, dass vieles schwarz gemacht wird. Große Effekte gab es dann aber keine.

STANDARD: Die Kosten wurden an die Konsumenten weitergegeben.

Bofinger: Das stimmt, Taxifahren beispielsweise ist deutlich teurer geworden. Aber das ist ja auch ok. Wenn ich Arbeitskraft in Anspruch nehme, muss ich dafür so viel bezahlen, dass es diesem Menschen seine Existenz sichert.

STANDARD: Eine andere Befürchtung: Dass die Scheinselbständigkeit steigen könnte, um den Mindestlohn zu umgehen, etwa bei Paketzustellern oder Taxifahrern.

Bofinger: Davon ist nichts zu sehen. Die regulären Beschäftigungsverhältnisse sind weiter gestiegen. Am stärksten in Branchen wie dem Einzelhandel oder der Gastronomie, von denen man dachte, dass der Mindestlohn besonders zuschlägt. Die Erklärung ist für mich, dass wir in Deutschland unheimlich viel schwarz machen. Es gibt Branchen ohne richtige Kontrolle. Wenn der Taxifahrer sein Taxameter einschaltet, wird das ja nirgends aufgezeichnet fürs Finanzamt.

STANDARD: In Österreich wurde heuer die Registrierkassenpflicht eingeführt, gerade unter Taxlern herrscht große Aufregung. Muss man noch schärfer kontrollieren, wenn es einen Mindestlohn gibt?

Bofinger: Wenn ich Teile meines Einkommens schwarz verdienen kann, besteht ein Anreiz, auch den Mitarbeiter schwarz zu bezahlen. Wenn ich unter der Hand einnehme, muss ich ja unter der Hand wieder ausgeben. Also sage ich meinem Mitarbeiter: Du bekommst 600 Euro und den Rest kriegst du so. Der Mindestlohn zwingt jetzt die Unternehmen, den offiziellen Lohn für diesen Arbeitnehmer auf 800, 900 Euro anzuheben. Wenn ich weiß auszahle, muss ich nämlich auch mehr weiß einnehmen. Deshalb sind im Gastgewerbe im letzten Jahr die Umsätze um sechs Prozent angestiegen. Das ist vielleicht auch eine Erklärung dafür, dass kein negativer Beschäftigungseffekt eingetreten ist.

STANDARD: Österreich hat einen sehr hohen kollektivvertraglichen Abdeckungsgrad. Macht das einen Mindestlohn hinfällig oder wäre es sinnvoll, beides zu kombinieren?

Bofinger: Dazu kenne ich das österreichische System zu wenig. Grundsätzlich braucht es keinen Mindestlohn, wenn es ein umfassendes System allgemeingültiger Tariflöhne gibt.

STANDARD: Es hat geheißen, ein Mindestlohn würde viele schlecht qualifizierte Migranten in die Arbeitslosigkeit stürzen.

Bofinger: Ich unterstütze den Ansatz, Flüchtlinge wie Langzeitarbeitslose ein halbes Jahr vom Mindestlohn auszunehmen, als Einstiegshilfe. Es wäre nicht schlecht, wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer beschnuppern könnten.

STANDARD: Unterläuft das nicht den Mindestlohn, wenn Gruppen ausgenommen werden?

Bofinger: Es wäre ja nur für sechs Monate. Halbjährlich neue Flüchtlinge zu übernehmen, um so den Mindestlohn zu unterlaufen, ist für den Unternehmer auch nicht so toll. Es gibt ja gewisse Einarbeitungszeiten. Man sollte Flüchtlinge nicht anders behandeln als Einheimische. Flüchtlinge generell vom Mindestlohn auszunehmen, wäre politisch katastrophal. Weil dann die einheimischen Arbeitnehmer unterboten werden könnten. Das gäbe Mord und Totschlag.

STANDARD: Sie teilen nicht die Befürchtung, dass etablierte Arbeitskräfte von Neuankömmlingen verdrängt werden?

Bofinger: Das Ziel sollte nicht sein, Flüchtlinge ins Prekariat zu drängen, sondern dass man versucht, sie zu qualifizieren. Deshalb wäre das der falsche Anreiz: Ihr könnt jetzt sofort arbeiten, zum Billiglohn. Die meisten Flüchtling sind jung, es lohnt sich, in ihre Ausbildung zu investieren. Wenn die einmal zwanzig, dreißig Jahre bei uns bleiben, hat die Gesellschaft etwas davon, wenn sie qualifiziertere Arbeiten machen und nicht nur Handlanger sind. (Simon Moster, 5.3.2016)