Die Biografie der Margarethe Ottillinger ist noch immer für Überraschungen gut. Nie war völlig klar: Warum wurde die ranghohe Beamtin der jungen österreichischen Republik im November 1948 an der Ennsbrücke, einer Grenze der Alliierten, von russischen Soldaten festgenommen, sieben Jahren in sowjetischen Gefängnissen gehalten und erst 1955, nach dem Staatsvertrag, freigelassen?

Der Zeithistoriker Stefan Karner, der schon vor rund 25 Jahren ein erstes Buch über Margarethe Ottillinger geschrieben hat, konnte nun für dieses neue Buch über Ottillinger in die Verhörprotokolle des sowjetischen Staatsapparats Einsicht nehmen. Die wichtigste Erkenntnis aus den Dokumenten, die den umfangreichen Anhang des Buches bilden: Es war Liebe im Spiel, und zwar eine, die den Sowjets gegen den Strich ging.

Ottillinger, die ab 1947 im Ministerium für Vermögenssicherung für die Verstaatlichung des deutschen Eigentums zuständig war (um es so dem Zugriff der Sowjets zu entziehen), hatte mit einem russischen Stahlingenieur namens Andrej Didenko eine Liaison. Ottillinger half ihm dabei überzulaufen, also in den englischen und von dort in den amerikanischen Sektor zu kommen. Für die Russen aber galt: Der Freund meines Feindes ist mein Feind. Ottillinger wurde immer wieder dazu befragt, ob sie für die Amerikaner spioniert habe. Sie verneinte dies, auch nach ihrer Befreiung und Rückkehr nach Österreich.

Jedenfalls war Ottillinger gewarnt, was eine mögliche Verhaftung anbelangte. Mittelsmänner in dieser Zeit des beginnenden Kalten Krieges hatten ihr von der Gefahr berichtet und davon, dass die Russen sie beschatteten. Ottillinger zog deshalb eine Zeitlang in die Wohnung ihres direkten Vorgesetzten, Peter Krauland, der Minister für Wirtschaftsplanung und Vermögenssicherung war. Von seiner Wohnung konnte sie leichter – und in der vermeintlichen Sicherheit eines Ministerautos – zu ihrer Arbeitsstelle fahren. Das Gerücht, Ottillinger habe mit Krauland ein Verhältnis gehabt, stammt daher. Doch bleibt seine Rolle auch mit den neuen Erkenntnissen fragwürdig. Laut Verhören wusste Krauland von Didenko, wusste von der Bedrängnis Ottillingers, und er fuhr einfach weiter, nachdem die Russen sie aus dem Ministerauto heraus verhaftet hatten.

Das Puzzle, das das Leben der späteren OMV-Vorstandsdirektorin ausmachte, ist durch dieses Buch vollständiger geworden und noch ein Stück atemberaubender. Die Verhörprotokolle sind erschreckende Zeitdokumente – obwohl der Historiker Karner darauf hinweist, dass sie "größter Quellenkritik" zu unterziehen sind. (Johanna Ruzicka, 3.3.2016)