Zweiter Besuch innerhalb von knapp zwei Wochen, aber neue Situation: EU-Ratspräsident Donald Tusk machte am Donnerstagvormittag in Athen bei Premier Alexis Tsipras Station, um einen politischen Konsens in der EU angesichts der Grenzschließungen gegen Flüchtlinge zu finden.

AFP/ Panayiotis Tzamaris

75 Minuten dauerte das Gespräch, dann kam ein müde und ernst wirkender griechischer Regierungschef mit seinem Gast aus Brüssel aus dem Besprechungszimmer. Der Eindruck täuschte: Alexis Tsipras war geladen. "Strafen und Sanktionen" forderte er am Donnerstag in Athen und hatte dabei Österreich und die EU-Länder auf dem Balkan im Blick, die mit ihren Grenzschließungen die Flüchtlingskrise dramatisch verschärft hätten. Dass EU-Mitgliedsstaaten den Vertrag von Lissabon mit seiner Verpflichtung zur Solidarität nicht achten, sei inakzeptabel, erklärte der griechische Premier im Beisein von Donald Tusk, dem Ratspräsidenten der Europäischen Union.

Die EU sei geschwächt worden durch "einseitige Maßnahmen ohne Planung, die gegen Beschlüsse des EU-Rats verstoßen", klagte Tsipras. Österreich und die Balkan-EU-Länder Slowenien und Kroatien hatten sich mit der Einführung von Obergrenzen für den Transit von Flüchtlingen über eine Vereinbarung der Staats- und Regierungschefs der EU vom 19. Februar hinweggesetzt. Das nächste Treffen der EU-Spitzen am Montag verspricht deshalb konfliktreich zu werden.

Nach dem EU-Gipfel in Brüssel wird die EU-Kommission einen detaillierten Ablaufplan vorlegen, wie die angestrebte verbesserte Sicherung der EU-Außengrenze durch eine neue Grenz- und Küstenwache der EU im Rahmen von Frontex entwickelt werden soll. Ziel ist es nach STANDARD-Informationen, dass die Schengen-Regeln bis November wieder vollumfänglich gelten, eine Küstenwache dann voll operativ wird. Spätestens im Dezember sollen dann die derzeitigen nationalen Kontrollen an Binnengrenzen (wie in Österreich oder Deutschland) wieder aufhören.

Tusk auf "Konsenstour"

Tusk begann am Dienstag eine Vermittlungstour in Wien, um, wie er sagte, einen "europäischen Konsens" in der Flüchtlingsfrage aufzubauen. Der Ratspräsident reiste im Anschluss an seinen Besuch in Athen am Donnerstag in die Türkei weiter, wo er in Ankara zunächst Regierungschef Ahmet Davutoğlu trifft und am Freitag Staatspräsident Tayyip Erdoğan.

Die Mitglieder der Europäischen Union müssten zur Kenntnis nehmen, dass Griechenland nicht allein die Bürde des Flüchtlingszustroms tragen könne, sagte der griechische Regierungschef. Das sei keine nationale Angelegenheit, fuhr Tsipras fort: "Das ist eine internationale Krise, die den Zusammenhalt der EU in Gefahr bringt."

Seitenhieb auf "andere Kultur" Mazedoniens

Zwei Wochen nach der faktischen Schließung der Balkanroute sammeln sich bereits mehr als 30.000 neue Flüchtlinge in Griechenland an. Allein auf den Inseln der Ostägäis warteten Donnerstagfrüh 5.300 Menschen auf die Weiterreise. Griechenland werde die Flüchtlinge vorübergehend beherbergen, versprach Tsipras. Mit einem Seitenhieb auf die mazedonische Polizei, die zu Wochenbeginn am Grenzzaun Tränengas gegen Flüchtlinge und deren Familien eingesetzt hatte, sagte er: "In unserem Land unterstützen wir Menschen, die schwach sind, und wenden nicht Gewalt gegen sie an. Andere europäische Länder haben eine andere Kultur, wie wir gesehen haben."

Beim EU-Türkei-Gipfel am Montag will Tsipras auf rasche Vereinbarungen für eine Verteilung von Flüchtlingen in der Türkei und Griechenland auf die anderen EU-Staaten drängen. Die Androhung eines Vetos oder einer Blockade von Beschlüssen im EU-Rat erneuerte er nicht. Die Weigerung vor allem der osteuropäischen Mitgliedsstaaten, syrische Kriegsflüchtlinge aufzunehmen, nannte Tsipras provokant.

Tusk unterstützt Tsipras-Kritik

Donald Tusk pflichtete seinem griechischen Gastgeber in der Kritik am einseitigen Vorgehen Österreichs bei, ohne das Land beim Namen zu nennen. Eigenmächtige Entscheidungen ohne vorherige Konsultationen seien schädlich für die EU. In Wien war Tusks Aufruf zur Wiederherstellung des grenzfreien Schengenraums von der Regierung als Unterstützung ihrer neuen Haltung interpretiert worden.

Tusk machte gleichwohl klar, dass eine neue Phase in der Flüchtlingskrise begonnen hat. Die Zeit des Durchwinkens über die Balkanroute sei vorbei. An "illegale Wirtschaftsmigranten" gerichtet appellierte er: "Kommt nicht nach Europa. Glaubt nicht den Schleppern. Riskiert nicht euer Leben und Geld." Griechenland sei kein Transitland mehr. (Markus Bernath aus Athen, Thomas Mayer aus Brüssel, 3.3.2016)