So ab sechs Uhr, schrieb Martin Mair, sei er da. Und zu fast jeder Schandtat bereit. Solange sie im Dienste "der Sache" stehe. Aber, kam mit einem schelmischen Smiley verziert die Nachfrage, ob ich denn wirklich, also "wirklich, wirklich schon" zu dieser frühen Stunde antanzen wolle. Schließlich sei zwischen dem Start der Nordic Walker und jenem der Läufer sicher genügend Zeit, um über jene Punkte zu plaudern, die ich nicht eh schon in den Vorjahren abgefragt hätte. Oder die eh auf der Homepage stünden. Die nordischen Spazierer, ergänzte der Wiener HTL-Lehrer und IT-Unternehmer, würden um neun Uhr losmarschieren. Die Läufer um elf. Und den Aufbau hätte ich ja ohnehin schon versäumt, …

Foto: Thomas Rottenberg

… denn der habe großteils bereits am Samstag stattgefunden; schließlich hätten auch die Kids bei ihren Läufen Anspruch auf die komplette Infrastruktur. Auch wenn das hier ein Charity-Lauf von Event-Amateuren sei, sei es Ehrensache, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ein seriöses und komplettes Paket vorzusetzen – von der exakt und nach Wettkampfnormen vermessenen Strecke über die professionelle Zeitnehmung bis hin zum Rahmen und Begleitprogramm. Was man achtmal gut hinbekommen habe, schrieb Martin Mair, wolle man beim neunten Mal dann nicht schleißig oder halbherzig abwickeln.

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Ich mag Mair. Obwohl ich ihn überhaupt nicht kenne. Wir sehen einander einmal im Jahr – und da ist Mair meist so im Stress, dass er sich vermutlich 30 Sekunden nach unseren kurzen Plauder-Häppchen nicht mehr daran erinnert, mich überhaupt gesehen zu haben. Nachvollziehbar. Denn Mairs Laufevent "Laufen hilft" ist längst keine "Pimperlveranstaltung" von ein paar sympathischen Schrulls mehr: Der traditionell Anfang März (heuer Ende Februar) abgehaltene Bewerb zählt mit rund 3.500 Teilnehmern zu den 20 größten Laufveranstaltungen Österreichs. Und ist im Vorbereitungskanon zu den Frühjahrswettkämpfen ein Fixpunkt im Wiener Laufkalender. (Auch wenn es über die "Kooperation" mit dem Vienna City Marathon spannende Geschichten zu erzählen gäbe. Aber dann würde mir wohl wieder einmal "Campaigning" unterstellt.)

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"Laufen hilft" steht für mich ziemlich für alles, was ich rund ums Laufen sympathisch finde. Und nicht nur ich: Dass da professionell, mit hohen Ansprüchen an sich selbst, aber ohne Dünkel, Arroganz und Attitüde Jahr für Jahr ein Event dieser Größe zugunsten Bedürftiger (St. Anna Kinderkrebsforschung und Neunerhaus) aufgezogen wird, beeindruckt auch andere – und motiviert sie zum Mitmachen. Es ist, zumal im städtischen Raum, längst nicht selbstverständlich, dass sich neben einer Kerntruppe von sechs Leuten, die mit Mair das ganz Jahr über ehrenamtlich an dem Event arbeiten, am Rennwochenende selbst mehr als 150 Nasen hinstellen. Für Gottes Lohn – bei jedem Wetter.

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Und das sogar dann, wenn man – wie etwa Carola Bendl-Tschiedel, die Dame in diesem Bild und ganz nebenbei Trägerin des schönen Titels "Rennsteigkönigin" (also Siegerin des 72-Kilometer-Rennsteig-Supermarathons) – selbst wohl im Spitzenfeld dieses Events mitlaufen würde. Bendl-Tschiedel war Streckenposten. Freiwillig. Ich lediglich Streckenposter. Unfreiwillig: Eine grippale Lästigkeit hatte mich aus dem Starterfeld gekickt. Ich hatte mir die Halbmarathon-Distanz vorgenommen gehabt. Nicht auf Druck, sondern so wie die meisten, um wieder Wettkampfluft zu schnuppern. Aber so harmlos-idiotisch die typische "Männergrippe" auch sein mag, so gar nicht harmlos kann es ausgehen, damit zu laufen. Erst recht einen Wettkampf: "Rennadrenalin" mag es aus medizinischer Sicht nicht geben – aber so unbedeutend kann ein Wettbewerb gar nicht sein, dass man da nicht die Warnsignale des Körpers niedertrampelt.

Und bevor Sie jetzt glauben, dass ich doch – hach! – soooo vernünftig bin: Hätten meine Freundin und meine Trainerin mir nicht massiv und zu Recht gedroht, wäre ich vermutlich gestartet. Obwohl ich genau weiß, wie saudumm das ist. Das ist der Moment, in dem Laufen im schlimmsten Fall lebensgefährlich sein kann …

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So aber war ich da, um Mair in seiner Funktion als "Renndirektor" durch den Tag zu begleiten. Und mir – und Ihnen – die Geschichte vom HTL-Lehrer, der mit seinen Schülern im Rahmen eines Schulprojekts 2007 einen Charity-Lauf durch den Kurpark Oberlaa organisierte, wieder präsent zu machen. Klasse und Lehrer wollten nach dem ersten Lauf mit 322 Teilnehmerinnen und Teilnehmern nicht aufhören, luden im Jahr darauf abermals zum Gut-Lauf und wagten beim dritten Mal den Sprung in den Prater. 2013, beim sechsten Event, waren es 1.724 angemeldete Läuferinnen und Läufer und ein Spendenerlös von mehr als 7.000 Euro. 2015 waren es 3.500 – bei rund 15.000 Euro. Und heuer?

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Mair tut nicht so, als sei Wachstum endlos: Bei etwas mehr als 3.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern lag man 2016. An Spenden kämen 10.000 Euro zusammen – und das auch nur, weil der Verein beschlossen habe, einen Verlust in Kauf zu nehmen. Der Stammtermin sei rechtzeitig angemeldet worden, man habe aber auf – äh – "Bitte" (nennen wir es mal so) des VCM umdisponieren müssen und liege im Februar halt ungünstiger. Kosten und Gebühren seien auch nicht gesunken: "Wie es langfristig weitergeht, wissen wir noch nicht, aber ein zehntes Mal wird es uns sicher geben."

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"Laufen hilft" ist mehr als ein einzelner Lauf. Die Kinderläufe wurden heuer im Dienste der Läufer auf den Samstag verlegt. In den vergangenen Jahren war immer wieder kritisiert worden, dass die Läufer ständig auf entspannt plaudernd-spazierende Gruppen von Nordic Walkern aufgelaufen waren. Und es hatte sich als unmöglich erwiesen, den gemächlich in Vierer- oder Fünferketten in Richtung Ziel schlendernden Spaziergeherinnen und -gehern klarzumachen, dass sie doch bitte die Kampflinie und mindestens die halbe Streckenbreite für die Läufer freilassen sollen.

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Also wurden die Rennen getrennt: Gegangen wurde um 9 Uhr früh. Wobei da angesichts von Walter Wagners Siegerzeit von 33 Minuten 30 für fünf Kilometer der Begriff "Gehen" schon zu relativieren ist – auch wenn der Langsamste erst nach über einer Stunde im Ziel eintraf: Leistung und Sport sind das, was sich für den Akteur oder die Akteurin so anfühlt. Und es ist bezeichnend, dass es immer nur mittelmäßige "Athleten" sind, die die Leistung von anderen belächeln, kleinreden oder marginalisieren. Ich habe noch keinen Spitzensportler erlebt, der dort, wo ein anderer sich an seine Grenzen vorgetastet hätte, statt Lob und Respekt Spott und Hohn gespendet hätte. Es gibt nämlich immer einen, der oder die schneller ist. Oder es irgendwann sein wird. Na und?

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Pünktlich um 11 gehörte die Hauptallee dann aber den Läuferinnen und Läufern. Gelaufen wurde über fünf und zehn Kilometer sowie die Halbmarathon-Distanz. Und, ja: Mir tat es richtig weh, da nicht mitrennen zu dürfen. "Besser so" hin, "vernünftig" her: Wenn Ihre Freunde da im Rudel und mit lautem Juhu an Ihnen vorbeipressen, möchte ich sehen, wie tröstlich es für Sie ist, zu wissen, dass das Gegenteil von dem, was Sie gerade tun wollen, die intelligentere Wahl ist.

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Andererseits hatte ich eh nicht viel Zeit zum Trübsalblasen. Weil: fünf Kilometer sind ja nix. Nicht für Eliteläufer. Und so kam Christoph Sander bereits nach 15 Minuten und 6 Sekunden über die Ziellinie geflogen. Das entspricht einem Durchschnittstempo von 19,9 km/h. Versuchen Sie mal, diese Pace zu laufen. Eh nur kurz: 300 Meter reichen. Viel Spaß dabei: Die meisten Couchpotatoes schaffen diesen Schnitt nicht mal am Fahrrad. Und jetzt schauen Sie sich Marathon-Weltspitzenzeiten an: 42 Kilometer in zwei Stunden und einem bisserl was. Nein, Sie haben sich jetzt nicht verrechnet…

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Bei den Damen teilten sich die Lokalmatadorinnen Elisabeth Niedereder und Anabelle-Mary Koncer den Fünf-K-Sieg. 18 Minuten 20? Das schaffe ich höchsten im freien Fall.

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Den Sieger über zehn Kilometer (Romed Rauth, 34’ 11") habe ich leider versäumt: Ich konzentrierte mich da schon auf die Jubel-Fotos jener Freunde, die nach der Fünf-Kilometer-Einheit gefeiert werden mussten und da schon wieder (halbwegs) wie Menschen aussahen. Und so schaffte ich es gerade noch, die schnellste Frau über den Zehner zu erwischen: Dass es meine Trainerin Sandrina Illes (35’48") war, freute mich natürlich gleich doppelt.

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Trotzdem waren und sind es die "Normalos", die ich am liebsten sehe. Menschen wie Sie und mich: Menschen, die sich einfach nur freuen. Egal ob sie in ihrer Altersklasse Siebente oder 84. werden. Leute, denen es bei solchen Bewerben um ganz etwas anderes als um Platzierungen und Reihungen geht: um die Freude an der Bewegung. Allein, in der Gruppe oder mit Kinderwagen. (Nebenbei: Rennen Sie doch mal mit Kinderwagen. Und dann schauen wir, wie lange Sie für fünf Kilometer brauchen …)

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Ich habe vor jedem und jeder, der oder die da ins Ziel kam, größte Hochachtung. Weil Zeiten nur Zahlen sind. Weil bei Volksläufen etwas ganz anderes zählt: dass man sich – und sonst niemandem – beweist, dass man sich Ziele nicht nur stecken kann, sondern sie, wenn man am Boden bleibt, auch erreichen kann. Weil Sätze wie "I want – I can – I will" und all das andere Motivationsgesülze eben doch nicht nur aus Phrasen besteht. Dann, wenn man bereit ist, mehr zu tun, als den Satz ins Titelbild des eigenen Facebook-Accounts zu kopieren. Und weil dann, wenn man ins Ziel kommt, alles andere egal ist. Weil man da den einzig relevanten und schlimmsten aller Gegner geschlagen hat: Nicht die Angst vor dem Scheitern, sondern die Angst vor der Aufgabe.

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Anderen beim Laufen zuzusehen kann da viel: Zu beobachten, wie Menschen – egal ob Fremde oder Freunde – sich mit dem Erreichen und Überschreiten eigener Grenzen tun, ist spannend. Zu sehen, was sich auf den letzten Metern vor einer Ziellinie in Gesichtern abspielt, ist faszinierend. Und mitzubekommen, wie Menschen neben der Strecke auf einmal mitzufiebern beginnen und ihnen komplett unbekannte Läuferinnen und Läufer am liebsten noch anschieben würden, macht Freude.

Foto: Thomas Rottenberg

Auch wenn es natürlich über das Nicht-selber-Starten nicht hinwegtröstet. Aber: egal. Andere Menschen haben echte Sorgen. Dessen darf man sich auch im Moment des größten Selbstmitleids durchaus bewusst sein. Auch deshalb sind Veranstaltungen wie "Laufen hilft" wichtig: weil sie relativieren.

Und weil da Hilfe geleistet wird, die ankommt und anspornt: Martin Mair, seine (Ex-)Schüler und all die anderen Helferinnen und Helfer sind keine Heiligen. Das sind Menschen wie Sie und ich – mit einem kleinen Unterschied: Sie tun etwas. Und wir? (Thomas Rottenberg, 3.3.2016)

laufenhilft.at

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