Kehrte für die Uraufführung eines neuen Handke-Stücks ans Burgtheater zurück: Claus Peymann.

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Wien – 1986 war ein in vielerlei Hinsicht denkwürdiges Jahr für Österreich. Kurt Waldheim wurde umstrittener Bundespräsident und Claus Peymann streitbarer Burgtheaterdirektor, der mit seinem Rappelkopf stante pede die Betondecken bürgerlicher Behäbigkeit durchbrechen wollte. In Protestnoten flehte das Ensemble den Kulturminister um die Abberufung des ungeliebten Chefs an. Und der Kritiker-Schriftsteller Hans Weigel verstieg sich anlässlich einer Ehrung – es handelte sich pikanterweise um den Staatspreis für Verdienste um die österreichische Kultur im Ausland – gar in Formulierungen wie "Österreicher-Pogrom", weil mit dem deutschen Direktor auch einige deutsche Schauspieler an die Burg gekommen waren, darunter Gert Voss und Kirsten Dene.

Als Peymann 1988 Thomas Bernhards "Heldenplatz" uraufführte, gab's vor dem Theater eine Fuhre Mist – und im Zuschauerraum eine Schrei-, Pfeif- und Applausschlacht. Theaterdonner nach Peymann-Art, das war einmal. 1999 wechselte Peymann ans Berliner Ensemble. Als vor zwei Jahren sein Nach-Nachfolger Matthias Hartmann fristlos aus dem Direktorensessel komplimentiert wurde, wurde auch Peymanns Name immer wieder für die Nachfolge ins Spiel gebracht.

Wenn er nun als Gastregisseur an seine ehemalige Wirkungsstätte zurückkehrt, gibt es keine Pfeifkonzerte. Seine Uraufführung von Peter Handkes "Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße" wurde zumindest vom Publikum mit minutenlangem Jubel bedankt.

STANDARD: Kriegen Sie bei so viel Applaus wieder mehr Sehnsucht nach Wien? Das Berliner Publikum gilt ja als deutlich zurückhaltender.

Peymann: Bei mir nicht! Ich sage immer: Alles, was unter sieben Minuten ist, ist ein Flop. Am Samstag hatten wir elf Minuten. (lacht) In meinem Nachruf wird es womöglich einmal heißen: "Der Skandalheini Peymann ist endlich weg!" Aber die Provokationen und Skandale, die mit meinem Namen in Verbindung gebracht werden, waren nie mein Ziel. Ich war immer auf Bestätigung aus – und natürlich auch auf ein Augenöffnen im Erschrecken. Mir wäre die Zeit viel zu schade, ein Stück nur wegen des Skandals zu machen.

STANDARD: War Peter Handke bei der Uraufführung tatsächlich nicht da, oder wollte er bloß nicht auf die Bühne gehen?

Peymann: Er war zwei Tage hier, hat ein kleines Stück der Aufführung gesehen, wir haben anschließend darüber geredet, er brachte einige positive Impulse ein. Ich weiß nicht, ob es Angst ist oder Scheu, aber er will bei Uraufführungen meist nicht dabei sein. Aber er wird sich im März eine Vorstellung anschauen, dann können Sie ihn ja fragen, wie es ihm gefallen hat.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt, Sie wüssten gar nicht, ob Handke Ihre Inszenierungen überhaupt schätzt.

Peymann: Das ging schon bei der "Publikumsbeschimpfung" los. Da gab es wahnwitzigen Applaus, und er fragte sofort: "Was hast du denn für Scheiß inszeniert?" Ich sehe meine Rolle vor allem in der Vermittlung des Textes. Handke hat prinzipielle Einwände gegen mein Textverständnis. Aber irgendetwas muss ja an dieser Beziehung dran sein, dass wir jetzt schon so lange und immer wieder miteinander arbeiten.

STANDARD: Apropos Vermittlung des Textes: Sie beklagen in Interviews immer wieder den Niedergang der Literatur an deutschsprachigen Theatern.

Peymann: Das beklage ich auch zu Recht. In Deutschland werden dauernd Theater geschlossen, weil sie unser größtes Geheimnis preisgegeben haben: das der Fiktion. Wenn Gert Voss Richard III. spielte, war er Richard III. und sagte nicht plötzlich mittendrin "Das find' ich jetzt aber Scheiße!" oder "Macht doch mal ein bisschen Musik an". Das ist Verrat. Viele meiner Kollegen glauben, dass Sie Schiller oder Handke oder Shakespeare auf diese Weise verbessern müssten. Das ist fahrlässiger Größenwahn. Warum sollte ich einen Schnitzler machen wollen, wenn ich ihn verbessern will? Dann doch lieber die Finger davon lassen und was Eigenes machen. Aber das kann ich nicht, weil ich kein Dichter bin. Das zweite preisgegebene Geheimnis ist, dass der Schauspieler seine Gefühle vermittelt. Dazu braucht er keinen Schlager oder ein Video, das ist doch nur eine primitive Anbiederung, ein gefährliches, affirmatives Verzweifeln am Glauben an die Spieler. Davon handelt übrigens auch Handkes wunderbares Stück. Der Stoff ist das Spiel. Es ist ein Abgesang auf ein Theater, das es im Augenblick vielleicht gar nicht mehr gibt, aber das es hoffentlich wieder einmal geben wird.

STANDARD: Ist dieser Abgesang auf das Theater auch einer auf die Gesellschaft?

Peymann: Hundertprozentig! Natürlich ist die Hauptperson des Stückes auch eine Art Idiot, so wie Handke und ich auch. Wir Idioten, wir vertreten sozusagen einen moralischen, ethischen und religiösen Begriff des Menschen, der sich mit dem Mainstream dieser Gesellschaft nicht mehr arrangieren kann.

STANDARD: Die Verteidigung der Straße ist eine Metapher auf die alte Welt, die ihre Werte verteidigt und Angst hat vor dem, was auf sie zukommt?

Peymann: Ja, klar. Die Menschheit wird in einen Untergang hineingehen, alle arbeiten tüchtig darauf hin. Wir haben aus der Geschichte nichts gelernt. Nichts. Es bleibt nur die Ausweglosigkeit. Man kann nicht die Schuld und das Versagen von hunderten Jahren Kolonialismus auf einen Ruck lösen. So, wie wir's jetzt machen, jedenfalls bestimmt nicht. Ich habe mich selten in einer solchen Ratlosigkeit befunden. Ich darf mir diese apokalyptischen, blutigen Bilder gar nicht vorstellen von Menschen, die hin- und hergeschoben werden. Natürlich werden sie die Grenzen stürmen. Was sollten sie sonst machen? Zurückschwimmen? Das Flüchtlingsproblem ist kein Schlepperproblem, sondern ein ganz globales Problem von Arm und Reich, von Ausbeutung und Kolonialismus.

STANDARD: Was kann Kunst, Theater in dieser Situation tun?

Peymann: Es geht sicher nicht, dass wir sentimental ein paar hilflose Afghanen oder Libyer auf die Bühne stellen, die dann ungeschickt und peinlich so tun, als hätten sie Theaterengagements. Das ist für mich Elendstourismus! Man kann diese furchtbare Wirklichkeit nicht abbilden, sondern ihr nur den Traum einer anderen Wirklichkeit entgegenhalten. Das tat schon Goethe, der seine "Iphigenie" in Kriegszeiten schrieb. Auch Handkes Stück tut das. Vielleicht empfinde nur ich so, aber dass es in diesen Zeiten, in diesem Land, am Burgtheater aufgeführt werden kann, ist schon eine Sternstunde.
Deshalb bin ich Karin Bergmann dankbar, dass sie Handke und mir, uns zwei alten Zauseln, vertraut hat.

STANDARD: Sie inszenieren Handke an der Burg, Ihr zukünftiger Nachfolger am BE, Oliver Reese, ein paar Häuser weiter, an der Josefstadt, Bernhard. Mit Kollegen gehen Sie bekanntlich nicht sehr zimperlich um, so auch nicht mit Reese. Sie haben ihn mit Ihrem größten Feind, dem Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner, verglichen.

Peymann: Beide sind so Theater- und Kulturbubis. Renner ist eine Katastrophe für Berlin, seien Sie mal froh über Ihren Mailath-Pokorny hier in Wien. Renner halte ich wirklich für eine Katastrophe. Politiker wie er sind gefährliche Zerstörer, nicht unähnlich den Kulturfeinden aus dem rechten Lager der NPD oder FPÖ. Reese ist ein kluger, geschickter Dramaturg, der ganz gern auch mal inszeniert. Aber natürlich ist er für das BE eine Nummer zu klein. Aber das ist vielleicht von der Politik so gewollt: ein leichter Gegner bei Sparprogrammen.

STANDARD: Er hat gesagt, er würde das BE zu einem Theater der Gegenwart machen und nach internationalen Autoren Ausschau halten. Haben Sie da etwas falsch gemacht?

Peymann: Wir sind total in der Gegenwart! Manchmal schreiben meine Feinde, wir seien ein Museum. Das ist natürlich boshaft gemeint, aber ich finde das ganz toll. Das Gute, Schöne, Wahre auch wirklich zu bewahren: Wenn das mal keine Aufgabe in Zeiten des Wertezerfalls ist! Was ist denn die Moderne? Die Infragestellung der Fiktion? Dann gute Nacht! Dann können wir die Theater schließen.

STANDARD: Ärgert Sie diese Ansage? Was ist gegen mehr Internationalität einzuwenden?

Peymann: Es ist mir ja im Grunde wurscht, was Reese machen wird, vermutlich das Gleiche wie Ulrich Khuon am Deutschen Theater. Internationale Autoren werden in Berlin von morgens bis abends gespielt, ununterbrochen, überall, der ganze Quatsch aus England, der ganze Quatsch aus Amerika. Wir sind ein Leuchtturm in der Wüste! Das BE war immer Heimat des deutschsprachigen Theaters, des deutschen Dramas, ein Fort Knox der deutschen Sprache. Das ist eine Festung, die es zu verteidigen gilt. Internationale Literatur: Die soll mich doch am Arsch lecken! Ich habe diese dramatische Globalisierung so satt. Natürlich habe ich nichts gegen Tennessee Williams, und ein Theater ohne Tschechow wäre gar nicht möglich. Aber es muss einen Ort geben, der deutschsprachige Literatur pflegt, denn die macht die Identität eines Landes aus.

STANDARD: Ihr Vertrag läuft 2017 aus. Kommt Wehmut auf?

Peymann: Ich denke weder zurück in die Vergangenheit noch voraus in die Zukunft. Ich denke nur an heute und bin glücklich über diese Premiere. Ich habe mich gefreut, dass es zehn Minuten Applaus gab. (lacht)

STANDARD: Das grenzt fast an Legendenverehrung …

Peymann: ... Und ist manchmal auch mühsam, in der Chagall-Ausstellung konnte ich tatsächlich kaum weiterkommen, weil es unentwegt Applaus gab.

STANDARD: Die Kritiken waren eher durchwachsen. Kränkt Sie das?

Peymann: Ihr Journalisten seid ja blind und taub! Es gibt kaum einen Regisseur, der so beschimpft wurde wie ich. Natürlich verletzt und kränkt mich das. Andererseits wäre es schrecklich, wenn ich plötzlich akzeptiert wäre. Insofern sind die schlimmsten Verrisse die wichtigsten Zustimmungen. Aber ich mache Theater für, nicht gegen das Publikum, meine Weggefährten sind die Zuschauer. Wenn die nicht hineingehen oder vor sich hindösen wie mitunter in der Josefstadt, dann wäre Alarm angesagt. Und offensichtlich haben die Leute begriffen, dass ich nie Kompromisse gemacht habe und immer zur Verfügung gestanden bin. Meine Kollegen sind in der ganzen Welt unterwegs, inszenieren mal hier, mal da. Ich nicht. Ich vertrete mein Theater immer und in jeder Form. Das ist letztlich das Geheimnis: Da geht einer konsequent seinen Weg. Insofern nehme ich die Huldigungen des Publikums mit einer gewissen Befriedigung entgegen. (Andrea Schurian, 2.3.2016)